Herbsttag

Bild zeigt Rainer Maria Rilke
von Rainer Maria Rilke

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Veröffentlicht / Quelle: 
Rainer Maria Rilke: Das Buch der Bilder, 1. Buch Teil 2, Axel Junker Verlag, 1906, Seite 48.

Gedichtanalyse: „Herbsttag“ von Rainer Maria Rilke

Einleitung

Das Gedicht Herbsttag von Rainer Maria Rilke, 1902 verfasst, gehört zu den bekanntesten Werken des Lyrikers. Es thematisiert die Vergänglichkeit und die Melancholie des Herbstes, die mit dem menschlichen Leben und dessen Endlichkeit in Verbindung gebracht wird. Rilke schildert den Übergang von Fülle und Reife zur Einsamkeit und Vergänglichkeit. Die Analyse betrachtet Inhalt, Form, sprachliche Mittel und die zentrale Botschaft des Gedichts.


Inhaltliche Analyse

Das Gedicht besteht aus drei Strophen. In der ersten Strophe wird der Herbst als eine Phase des Übergangs dargestellt. Der lyrische Sprecher wendet sich an eine höhere Instanz, vermutlich Gott, und bittet darum, die Reife des Sommers zu vollenden. In der zweiten Strophe werden die Zeichen des Herbstes beschrieben: der Wind, der durch die Felder zieht, und die Reifung der Früchte. Die letzte Strophe hebt die Einsamkeit des Menschen hervor, der im Herbst zur Ruhe kommt und auf sich selbst zurückgeworfen wird.

Rilke verbindet inhaltlich die natürliche Jahreszeit mit einer existenziellen Dimension. Der Herbst wird nicht nur als äußerliches Naturphänomen beschrieben, sondern auch als Symbol für Reife, Abschied und die Unausweichlichkeit des Lebenszyklus.


Formale Analyse

  1. Struktur und Metrik

    • Das Gedicht besteht aus drei Strophen mit unterschiedlich langen Versen. Es folgt einem klaren Rhythmus und verwendet überwiegend einen jambischen Versfuß, was die Harmonie der Sprache unterstreicht.
  2. Reimschema

    • Es wird ein regelmäßiges Reimschema (abba in der ersten Strophe, cddc in der zweiten) verwendet, das die Geschlossenheit und Klarheit des Gedichts unterstützt.
  3. Klang und Rhythmus

    • Der ruhige, fließende Rhythmus reflektiert die besinnliche und melancholische Stimmung des Herbstes.

Sprachliche Mittel

  1. Symbolik

    • Herbst: Symbolisiert den Übergang, Reife und Vergänglichkeit.
    • Reifen der Früchte: Ein Bild für das Erreichen eines Höhepunkts im Leben, bevor der Verfall beginnt.
    • Einsamkeit: Steht für die Rückkehr des Menschen zu sich selbst und die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit.
  2. Personifikation

    • Der Herbst wird personifiziert: „Herr, es ist Zeit“ oder „Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein.“ Diese Darstellung verleiht der Natur eine bewusste, beinahe göttliche Macht.
  3. Alliteration und Assonanz

    • Der Klang des Gedichts wird durch lautliche Wiederholungen unterstützt, z. B. „Schatten“ und „schweifen“. Dies verstärkt die ruhige, melancholische Wirkung.
  4. Wiederholungen

    • Die Anrede „Herr“ in der ersten Strophe betont die Bitte und verleiht dem Gedicht eine liturgische Note.
  5. Metaphern

    • „Lange Tage“ und „Sommer war sehr groß“ sind Metaphern für die Fülle und Höhepunkte des Lebens.

Interpretation

Das Gedicht reflektiert Rilkes existenzialistische Sichtweise auf die Vergänglichkeit des Lebens. Der Herbst wird als Metapher für die Reife und das Abschließen von Lebensphasen verstanden. Der Bittende in der ersten Strophe sucht Harmonie und Vollendung, bevor der Winter – als Symbol für den Tod – eintritt.

Die Einsamkeit in der letzten Strophe könnte als Aufruf zur Selbstbesinnung und inneren Einkehr interpretiert werden. Rilke zeigt, dass der Herbst nicht nur Verlust, sondern auch eine Chance zur Reflexion und Vorbereitung auf das Kommende darstellt.

Das Gedicht ist von einer tiefen Melancholie durchdrungen, die jedoch nicht düster, sondern getragen von Akzeptanz und Ruhe ist. Es spiegelt die tiefe Verbundenheit zwischen Natur und Mensch wider und betont, dass Leben und Vergänglichkeit untrennbar miteinander verbunden sind.


Schluss

Herbsttag ist ein Meisterwerk der Lyrik, das durch seine präzise Sprache und die universellen Themen von Reife, Vergänglichkeit und Einsamkeit berührt. Rilkes Fähigkeit, Naturbilder mit existenziellen Fragen zu verbinden, macht das Gedicht zeitlos und tiefgründig. Es regt zur Reflexion über die eigene Lebenszeit und den Umgang mit Veränderungen an.

Gedichtform: 
Thema / Schlagwort: 

Video:

Rezitation: Angélique Duvier, Klavier und Komposition: Vladyslav Sendecki

Rezitation:

Rezitation: Rezitation: Angélique Duvier, Klavier und Komposition: Vladyslav Sendecki
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