Ruth - Page 11

Bild von Lou Andreas-Salomé
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herummalte, schien sich ihr alles von selbst zu verwirklichen. Das Wirklichkeitsbild aber, das ihr jetzt fremd entgegentrat und in den Traum eingriff, verschüchterte sie; es wäre eigentlich schöner gewesen, wenn sich alles auch noch weiter so von innen heraus geformt hätte, wie man sich's eben träumen läßt.

Die bange Empfindung nahm nicht ab, sondern zu, als sie endlich dem Hause nahe kam, das sie suchte. Es war ihr, als erwache sie plötzlich und befinde sich totenallein in wildfremder Gegend. Eine förmliche Angst überfiel sie vor lauter Schüchternheit, und wie gelähmt blieb sie am Gartengitter stehn.

Da lag das Haus vor ihr; eine Magd fegte auf dem breiten Kiesweg vorn Strohhalme zusammen, die bis auf die Straße verstreut waren, und daneben stand ein Knabe, den Hut im Nacken, und sah zu. Der mußte sie sicher gleich bemerken. Am liebsten wäre sie wieder umgekehrt.

»Die Augen zumachen – fortlaufen!« dachte sie sehnsüchtig. Aber das durfte sie nicht. Ihren eignen Willen durfte sie ganz gewiß nicht hinterdrein im Stich lassen.

Da sang eine Nachtigall im Fliedergebüsch am Zaun.

Und leise – leise, mit werben dem Klang, lockte aus der Tiefe des Gartens die zweite.

Ruths Augen schweiften am Hause vorbei über den Garten und blieben entzückt darauf haften.

»Der Frühling!« sagte sie jauchzend, ganz laut. Sie hatte ihn noch gar nicht gesehen in diesem Jahr. Nun erst ward sie sich dessen bewußt, daß sie doch soeben, auf dem Weg vom Bahnhof, unter grünenden Birken gegangen war, und daß im Grase am Wegrand weiße Anemonen standen. Jetzt kam es ihr vor, als sei das nur so ein wenig Frühling gewesen, der von den Menschen, die aus diesem Garten traten, unterwegs verstreut wurde. Aber hier war der Frühling zu Haus, von hier mußte er kommen; und nun stand sie dicht vor dem Gitter, hinter dem er blühte. In dem rotgoldenen Duft, den die Sonne darum wob, schaute er mit der eben aufbrechenden Obstblüte und dem zarten Laub der Bäume wie ein Märchen hinter dem alten Hause hervor. Da einzutreten, das war fast, als ob man aus einem Traum gar nicht herauskäme.

Jonas hatte sich neugierig der Gartenpforte genähert, an der jemand stand, von dem er nicht recht wußte, ob es ein Mädchen sei.

»Ich möchte hier herein!« sagte Ruth bittend.

*

Erik und Klare-Bel saßen an dem noch nicht abgedeckten Mittagstisch im Wohnzimmer an der Terrasse, und wie immer erzählte Erik seiner Frau lebhaft und mitteilsam von den kleinen Begebenheiten des Tages. Voll Humor schilderte er ihr die Mädchenschule und Ruth. Warwaras Besuch in der Stadtwohnung erwähnte er nur flüchtig.

Da kam Jonas atemlos ins Zimmer gestürzt.

»Papa! da ist jemand, der dich sprechen will. Ruth heißt sie. Ich habe sie in dein Arbeitszimmer geführt.«

»Aber Jonas!« rief seine Mutter, »wie konntest du das nur tun! Da drin muß es ja noch schauderhaft aussehen! Bringe sie doch herüber, Erik! Bitte, bringe sie lieber herüber! Wenn Gonne nur abräumen möchte!«

Erik hörte es nicht mehr. Er war schon fort.

Als er raschen Schrittes über den Flur in sein Zimmer trat, stand Ruth mitten darin, etwas vornübergeneigt und die Hände fest gegen die Brust gedrückt. Der erste Eindruck, den er empfing, war wie der der des Scheuen, Vereinsamten, wie in dem Augenblick, wo sie so still gesagt hatte: »Mir hilft niemand!« Wie er sie so dastehn sah, und sie ihm mit großen, bangen Augen entgegenblickte, erinnerte sie in keinem Zuge mehr an den ausgelassnen Jungen im Schulhof.

Erik kam nur undeutlich die Vorstellung davon, daß man im Fall eines unerwarteten Besuches zunächst einen Stuhl anbietet und irgend etwas Freundliches sagt. All dies Getue kam ihm wie zu einer andern Welt gehörig vor, – jedes konventionelle Wort vergaß er dieser schüchternen, kindlichen, sichtlich aufs tiefste ergriffenen Gestalt gegenüber. Es war, als stünde sie auf einer einsamen Insel am weiten Meeresstrande ganz allein vor ihm, – ein Kind aus dem Volke –, und ringsum nichts als ein paar schwebende Möwen über ihren Köpfen.

Ganz unwillkürlich aus diesem Eindruck heraus fand er nur das Wort der Freude: »Kommst du zu mir?«

Das »Du« wirkte wie eine Erlösung auf sie. Es schien ihr in dieser Einfachheit ein Zauberwort, das die fremde, herzbeklemmende Wirklichkeit mit einem Schlage verwandelte, – sie umwandelte zur traumhaften Verwirklichung dessen, was Ruth ersehnt und ersonnen hatte.

Sie machte einen Schritt auf Erik zu, ein heller Ausdruck flog über ihr ganzes Gesicht, und die Hände fester gegen die Brust pressend, deren Herzklopfen ihr den Atem benahm, sagte sie kindlich: »Danke!«

Er hatte sich auf einen der umherstehenden Stühle gesetzt und faßte ihre Hände in den seinen zusammen. Die Hände zitterten, und es fiel ihm auf, wie blaß und schmächtig sie aussah, wenn nicht der Ausdruck übermütiger Lebensluft, den er an ihr gesehen hatte, darüber hinwegtäuschte.

»Fürchtest du dich?« fragte er, und sein Blick ruhte auf dem schmalen Gesichtchen.

Sie nickte ganz leise mit dem Kopfe, und noch immer zitterte sie, wie ein Vogel, auf den sich eine fremde Hand legt.

»Du fürchtest dich doch nicht vor mir, zu dem du kommst? Sage mir, wes halb du kommst.«

Sie nahm ihre Mütze vom Kopf und besann sich. In Gedanken durchlief sie die ganze Entstehungsgeschichte ihres Entschlusses, vom ersten Schuleindruck an, – aber die ließ sich ja, so weitläufig und verworren wie sie war, ganz gewiß nicht wiedererzählen.

Sie versuchte, die Hauptsache herauszuholen. Aber nun vergaß sie alles. Es war rein unmöglich.

Und plötzlich brach Ruth in Tränen aus.

»Mein liebes Kind!« sagte er sanft und strich ihr das lose lockige Haar aus der Stirn, das über das gesenkte Gesicht gefallen war. Dann nahm er ihre Hände wieder in die seinen.

»Hast du Vertrauen zu mir?« fragte er.

»Ja!« sagte sie leise.

»Unbedingtes?«

»Ja!« sagte sie wieder.

»Dann darfst du weder zittern noch dich fürchten. Versuche jetzt einmal ganz fest, es zu bezwingen. Ganz fest, hörst du? Es wird schon gehn.«

Sie machte eine Anstrengung, das nervöse Beben, das durch ihren Körper ging, zu unterdrücken. Er wartete ruhig einige Augenblicke, bis es ihr gelungen war. Dann beharrte er auf seiner ersten Frage: »So. Und nun sage mir, weshalb du gekommen bist. Sag es, so gut du kannst. Versuch es nur. Ich werde dir helfen.«

Sie seufzte und begann unsicher: »Ich komme nun bald nicht mehr

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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