Die Hinrichtung - Page 2

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bis ihnen schwarz vor Augen wurde. Als Nächstes unterbrachen sie die gesamte Blutzufuhr für den Kopf, indem sie eine unvollständige Hängung simulierten. Da sie aber nicht mit dem gesamten Körpergewicht in der Schlinge hingen, war Minovici nicht zufrieden. Das Gesicht wurde zwar rot, lief dann blau an, die Sicht war verschwommen und in den Ohren begann es zu pfeifen, aber es wurde nur mit Bruchteilen des Körpergewichtes an der Schlinge gezogen. Minovicis Ziel aber war das richtige Erhängen mit einer Schlinge, die sich zusammenzieht. Sein Ehrgeiz dafür war groß genug.

Die Studie enthält ein Foto von Minovicis Hals, das die Verletzungen zeigt: Frakturen von Kehlkopf und Zungenbein und verschiedene Blutergüsse. Minovici berichtet, dass er nach dem letzten Experiment einen Monat lang Schmerzen gehabt habe.

Durch seine Studie fand man heraus, dass die Lage der Schlinge am Hals entscheidend ist und dass die meisten Erhängten nicht ersticken, sondern durch die unterbrochene Blutzufuhr ins Gehirn sterben.

*

Schalom setzte seinen Dienst fort. Viermal drei Stunden pro Tag bewachte er den Insassen, im Anschluss hatte er jeweils 48 Stunden frei. Er sah den Gefangenen beim Lesen, beim Schreiben, er schaute ihm beim Schlafen zu. Der Häftling war immer höflich und distanziert, er schaute Schalom so gut wie nie an und wenn doch, dann weil er um etwas bat. Aber Schalom war für ihn nur einer von mehreren Bewachern, ein persönliches Verhältnis kam nicht zustande.

Manchmal beobachtete Schalom das Gesicht des Todgeweihten. Er suchte das Grauen, die Herzlosigkeit, er suchte das Böse in diesem Mann. Er fand es nicht. Er sah keine Schuld, keinen Hass, keine Furcht im Gesicht dieses Mannes. Er entdeckte kein einziges Gefühl im Antlitz dieses Mannes und wohl auch deswegen fühlte er selbst nichts. Sie waren nichts weiter als zwei Männer in einem schmucklosen Raum, die einzige Verbindung zwischen ihnen war die Zellenluft.
Wenn es etwas zu essen gab, lag es an Schalom, das Gericht vorzukosten. Die Mahlzeit wurde immer in Schalen mit verriegeltem Deckel geliefert, die Schalom vorsichtig öffnete. Von jeder Speise kostete zuerst Schalom, dann erst der Gefangene. Man war also bereit, Schaloms Tod durch Vergiftung in Kauf zu nehmen, um das Leben des großen Verbrechers zu schützen. Aber auch dieses Leben wurde nur geschützt, um es zum festgelegten Zeitpunkt töten zu können.

*

Im Internet finden sich einige Videos, die zeigen, wie Saddam Hussein gehängt wird. Man sieht einen alten, bärtigen und gebrochen wirkenden Mann. Er trägt einen schwarzen Mantel, seine Hände sind hinter dem Rücken zusammengebunden. Er wird von mehreren, meist beleibten Männern umringt und dirigiert. Die Männer sind alle in Zivil gekleidet, sie tragen Lederjacken und schwarze Sturmhauben, die Augen- und Mundpartie sind frei. Sie wirken in ihrer Aufmachung nicht wie die Beamten eines Staatsapparates, sondern wie die Handlanger eines Mafiapaten.
Auch der Raum hat wenig Staatstragendes. Fensterlos, komplett zubetoniert, im Hintergrund erkennt man eine Art Treppengeländer, im Vordergrund schwenkt die Kamera nur für einen kurzen Moment auf den eigentlichen Galgen, der dreckig und abgenutzt wirkt. Einer der Henker legt dem ehemaligen Staatspräsidenten und Premierminister ein schwarzes Tuch um den Hals, dann führt er ihn mit einem Kollegen zur Falltür. Gemeinsam legen die beiden Männer die Schlinge um den Hals des Diktators. Dieser wirkt ungewöhnlich passiv, fast schon einsichtig.
Der eigentliche Akt des Hängens wird nicht gezeigt. Man fragt sich: Warum? Sollte dem ehemaligen Tyrannen im Moment der Erniedrigung ein letzter Rest an Würde gewährt werden? Fürchtete man, die Bilder seines Todes würden zu grausam? Wollte man eventuell den Jubel und das Klatschen der Henker nicht zeigen?

Letztendlich spielt es keine Rolle. Dieses Video, ähnlich wie das Video von der Hinrichtung Ceausescus und seiner Frau, sind von einer Schlichtheit und Banalität, dass man wohl kaum von einer Sternstunde der Menschheit sprechen kann.

*

Es kam der eigentliche Tag. Es war gegen neun Uhr am Abend im Gefängnis von Ramle bei Tel Aviv. Schalom hatte den ganzen Tag nichts essen können. Wie im Fieber hatte er Wasser getrunken, ständig Schweißperlen auf der Stirn, hoffend, dass alles bald vorüber sei.
Als der deutsche Pfarrer zur Tür herein kam und in die Zelle des Häftlings geführt wurde, war es für Schalom das Signal, sich fertig zu machen. Er ging in den Vorbereitungsraum und holte die Flasche Wein, die der Gefangene sich gewünscht hatte. Nichts zu essen, aber ein guter Rotwein sollte es sein. Ein anderer Wärter kam, nahm Schalom die Flasche ab, füllte den Wein in ein Glas und brachte es dem Häftling. Dann betrat Schalom mit dem Gefängnisdirektor den Raum mit dem Galgen. Die erste und letzte Hinrichtung in der Geschichte Israels stand bevor, und hier, in diesem schmucklosen Raum, würde sie stattfinden. Und er, Schalom, der 24-jährige Jemenit, würde sie durchführen.

Er sah sich den Galgen an. Sie hatten ihn nach Vorgaben aus einem englischen Buch gebaut. Peinlich genau hatten sie auf jedes Detail geachtet. Von der Falltür bis zur Schlinge, alles sah so aus wie auf den Bildern und Fotos in dem Buch. Doch die Perfektion im Detail konnte nicht darüber hinweg täuschen: sie waren Dilettanten, Amateure. Sie hatten keine Ahnung, wie man jemanden hinrichtete.

Es kam der Häftling. Er wurde von zwei Wärtern hereingeführt, einer an jeder Seite. Hinter ihnen der Pfarrer, mit steinerner Miene. Der Gefangene wirkte gefasst, nahezu gelöst, es war nicht klar, ob es am Wein lag. Schalom machte einen Schritt nach vorne, hob die Augenbinde hoch, doch der Gefangene wehrte ab.
„Nicht nötig“, sagte er klar und deutlich.
Schalom versuchte, sein Entsetzen darüber zu unterdrücken. Er hatte Angst vor den Augen des Häftlings, panische Angst. Er fürchtete, dass der letzte Blick des Häftlings ihn bis ins Mark durchdringen und dort haften bleiben würde. Er hatte sich vorher Mut gemacht, er hatte sich gedacht, dass alles einfacher werden würde, sobald der Gefangene die Augenbinde trug. Und nun lehnte er sie ab, mit klarer Stimme und einem kalten Blick.

Schalom führte den Gefangenen zum Galgen, legte ihm vorsichtig die Schlinge um den Hals. Er trat einen Schritt zurück, ebenso die beiden Wärter und der Pfarrer. Der Gefängnisdirektor kam herein und verlas noch einmal das Urteil. Schließlich fragte er den Häftling nach letzten Worten. Der Gefangene räusperte sich.
„Es lebe Deutschland, Argentinien und Österreich“, begann er. Dann schaute er zuerst Schalom in die Augen, dann den anderen Männern.
„Meine Herren, schon bald werden wir uns wiedersehen.“

Schalom fühlte einen Schlag in der Herzgegend.

Die beiden Wärter, der Pfarrer und der Gefängnisdirektor verließen den Raum und gingen in den angrenzenden Zuschauerraum, von dem aus man die Hinrichtung durch ein Fenster beobachten konnte.

Dann ging Schalom zum Tisch mit dem Knopf und schob den Vorhang vor. Er zitterte, als er den Knopf drückte.

Schalom hörte die Falltür. Er hörte einen letzten Atemstoß.

Dann spürte er nichts mehr und ihm wurde schwarz vor Augen.

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