Mit hängendem Kopf sitzt er auf seinem Stuhl im Wartebereich vor der Notaufnahme und starrt vor sich hin. Er seufzt. Weiterhin keine Nachricht über den Zustand seiner Schwester, ob die Ärzte sie noch retten konnten oder ob der Blutverlust bereits zu groß gewesen war.
Vor knapp zwei Stunden hatte er sie gefunden: auf dem Badezimmerboden liegend – mit offenen Pulsadern. Seitdem plagen ihn die Schuldgefühle.
Er hatte ihre Not einfach nicht begriffen, sich nicht vorstellen können, dass sie tatsächlich so hoffnungslos unglücklich war, sogar bereit, sich das Leben zu nehmen – mit vierundfünfzig Jahren. „Depression“ war für ihn eine moderne Spinnerei der Überempfindlichen gewesen, die sich einfach wichtig machen wollten. Außerdem sprach ja mittlerweile jeder bereits bei etwas Unwohlsein von depressiver Verstimmung, wie konnte man das alles noch ernst nehmen.
Aber jetzt erinnert er sich sehr deutlich: Sein Sohn hatte ihn bereits vor Jahren gewarnt, ihm gesagt, dass sie psychologische Hilfe benötigte. Doch er selbst war stattdessen nur über dessen „Gefühlsduselei“ verärgert gewesen, womit seine Schwester nur noch in ihrem Unsinn bestärkt würde. Nun allerdings sieht das alles etwas anders aus.
Tief in seinen Gedanken versunken merkt er nicht, wie ein Mann auf dem Stuhl neben ihm Platz nimmt. Erst als dieser niesen muss, registriert er ihn: „Helf d’ Gott“, wünscht er ihm automatisch.
„Vergelt’s Gott“, dankt der andere.
Da wird er hellhörig. Hier ist jemand, der noch die Ausdrücke seines Heimatdialekts verwendet: „Segn’s Gott“ antwortet er positiv überrascht und blickt nun direkt in das freundliche Gesicht seines Sitznachbarn.
Dieser ist in Redelaune: Er erzählt, er warte hier auf seinen Sohn und seinen Enkel. Der Bub sei in die Notaufnahme gekommen, weil bei ihm der Verdacht auf eine Blinddarmentzündung bestanden habe, welcher vor kurzem auch bestätigt worden sei. Allerdings wäre gottlob alles rechtzeitig geschehen.
Dann senkt der Redner seine Stimme, so dass der Zuhörende ihn gerade noch verstehen kann, und vertraut diesem an: Erst hätte er sich gedacht, der Bub würde sich nur anstellen, wegen so ein bisserl Bauchzwicken, aber jetzt sei er heilfroh, dass sein Sohn vehement darauf gedrängt hatte hierherzukommen. Dessen etwas „gefühlsduseliger“ Erziehungsstil wäre ihm eigentlich immer ein Dorn im Auge gewesen, doch er müsse zugeben, sein Enkel könnte ohne ihn jetzt tot sein.
Flüsternd fügt er kaum hörbar hinzu: „Und es wäre meine Schuld gewesen.“ Bei diesem Gedanken werden die Augen des Redners leicht feucht, dann jedoch fasst er sich gleich wieder und meint abschließend mit normal lauter Stimme: „Aber was bringt’s, ist ja noch mal gut gelaufen. Und Hauptsache ist doch, dass wir aus unseren Fehlern klug werden.“
Zufrieden lehnt sich der Redner auf seinem Stuhl zurück und blickt seinen Sitznachbarn aufmunternd an, offensichtlich erwartend, dieser würde nun ebenso den Grund seines Aufenthalts hier erzählen.
Normalerweise hätte den Ermunterten solch eine Distanzlosigkeit bei einem Fremden gestört, aber wie er nun völlig verdattert feststellt: Bei diesem hier ist das anders. In einer merkwürdigen Weise kommt der Redner ihm erstaunlich vertraut vor, vielleicht auch wegen der vielen Gemeinsamkeiten, die sie miteinander haben. Somit pflichtet er ihm zu dessen Schlussfolgerung bei, fügt dann aber noch mit leiser Stimme die für ihn entscheidende Frage hinzu: „Nur was, wenn es zu spät ist?“
Der andere nickt verständnisvoll. Er begreift, dass sie sich nun mitten in der Geschichte des Fragestellers befinden. Und er weiß genau, was dessen Frage beinhaltet, schließlich hatte er sich vor der erlösenden Nachricht über den Zustand seines Enkels bereits selbst den Kopf darüber zermartert. Bereitwillig teilt er nun das Ergebnis seiner Überlegungen: „Denjenigen, die Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen, ihre Fehler bereuen und aus ihnen lernen, wird ihre Schuld sicherlich vergeben werden.“
Teilnahmsvoll blickt er den Fragesteller an und ergänzt noch: „Außerdem machen Schuldgefühle bloß handlungsunfähig und bringen somit keinem etwas.“ Dann fällt der Blick des Redners auf die Uhr: Es ist so weit, endlich ist die Zeit gekommen, seinen Sohn und Enkel zu treffen.
Beide Männer stehen auf und verabschieden sich mit kräftigem Händedruck. Gerade als der Dagebliebene wieder Platz genommen hat, sieht er seinen Sohn auf sich zueilen. Er hatte ihn sofort nach dem Vorfall angerufen und gebeten zu kommen – eigentlich für dessen Tante, aber, wie er nun überrascht eingestehen muss, auch für sich selbst.
Wenn er es genau überlegt: Das Feingefühl seines Sohnes hat tatsächlich schon immer allen sehr gutgetan, nur war er als Vater bisher nicht in der Lage gewesen, dies anzuerkennen. Seine väterliche Sorge, sein Sohn könne für einen Mann zu empfindsam sein, hatte alles kontrolliert. Mittlerweile ist dieser jedoch erfolgreich am Ende seines Psychologiestudiums angelangt.
„Wie geht’s ihr, Papa?“ Besorgt blickt der Sohn in das Gesicht seines Vaters, aber dieser schüttelt den Kopf: Immer noch keine Nachricht.
Enttäuscht setzt sich der junge Mann neben ihn, zögert kurz und legt dann mitfühlend seine Hand auf dessen ineinandergefaltete Hände. Da jedoch geschieht etwas Unerwartetes. Ohne aufzublicken greift der Vater wiederum nach der Hand seines Sohnes und drückt sie beruhigend.
Der junge Mann ist verblüfft. Schon als er vor rund zwei Stunden seinen Anruf erhielt, hätte er ihn fast nicht wiedererkannt. Anstelle seines selbstsicheren Vaters hatte er einen von Schuldgefühlen zerfressenen Mann am Telefon. Folglich bereitete er sich innerlich auf das Schlimmste vor. Doch nun sitzt hier ein Mann, bei dem sich die Wandlung irgendwie fortgesetzt hat, so dass dieser jetzt völlig gefasst sogar versucht, ihn väterlich zu beruhigen. Sprachlos starrt er ihn an.
Der Vater bemerkt den Blick seines Sohnes und erklärt mit leiser Stimme: „Ich weiß nun, ich hätte es verhindern können, und ich bereue sehr, das nicht früher begriffen zu haben. Aber mir ist jetzt auch klar: Es geht um Verantwortung, nicht um Schuld, egal wie es ausgeht.“
In diesem Moment kommt der zuständige Arzt aus der Notaufnahme auf die beiden zu: „Sie haben Glück, Ihre Schwester ist jetzt stabil.“
Von Erleichterung überwältigt umarmt der Vater kurz seinen immer noch verwirrten, doch ebenso glücklichen Sohn. Dann folgen beide Männer dem Arzt in den Behandlungsraum.
Es geht nicht um Schuld
von Antonia Löschner
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Veröffentlicht / Quelle:
In: Alltagsperlen: Kurzgeschichten und Gedichte, 2017
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Interne Verweise
- Autorin/Autor: Antonia Löschner
- Prosa von Antonia Löschner
- Prosakategorie und Thema: Kurzgeschichten & Kurzprosa, Gesellschafts- & Entwicklungsinhalte