6½ Monate später läuteten die Glocken von Santa Chiara wie wild. Fast so, als wollten sie vor einer wütenden Feuersbrunst warnen, oder sogar den Teufel austreiben. Aber der Teufel ließ sich nicht mehr vertreiben, jedenfalls nicht nach menschlichem Ermessen. Denn er hieß nicht „Luzifer“, sondern „Suprachiasmatischer Nucleus“ und in ihm wütete ein Feuer aus bisher unerforschten Bakterien, die alles, was der Mensch zum Schlafen braucht – rund 20 000 oszillierende Gehirnzellen – nach und nach verzehrten.
Paolo zitterte in seinem noblen Anzug, als Mama für ihn die Krawatte band. Wollte sie ihm den Henkersstrick um den Hals legen? „Und wie du wieder aussiehst, Fanciullo“, rief sie, halb belustigt und halb verärgert. „Wo hast du dich nur wieder herumgetrieben?“
„Mama, ich ...“, begann Paolo, ließ aber dann doch ungesagt, was längst hätte gesagt werden sollen. Jetzt, wo sich alle außer ihm auf das Baby freuten. Sicher freute sich auch noch sein toter Vater im Himmel darüber, ebenso wie seine Schwiegermutter in spe, die drei Jahre jünger war als er – fünfundzwanzig also. Am meisten ärgerte ihn jedoch, daß sich auch Philomenas Vater, der zweiundsechzigjährige Don Guiseppe Monterosa darüber freute. Sicher stand sein goldfarbener Rolls-Royce bereits vor dem Portal der Chiesa, das jetzt weit offen stand, wie eine Mausefalle. Wie eine Mausefalle ohne Speck.
Paolo freute sich nicht. Schließlich wußte er, daß seine Zukünftige ihn nicht wirklich liebte, daß sie ihn nicht einmal je würde akzeptieren können. Dafür war er sowohl als Mensch wie auch als Persönlichkeit viel zu uninteressant. Sein gesellschaftlicher Rang lag weit unter dem ihren angesiedelt. Innerhalb der Verwandtschaft seiner Frau – und nur die zählte in Wahrheit – würde er immer eine kaum geduldete Null bleiben: Der, leider unentbehrliche, Kindsvater, dem man großherzig verzieh, eine Tochter aus reichem Haus bestiegen zu haben. Ein Wunder, daß er noch lebte. Und dieses Wunder verdankte er seinem Kind. Was für ein Start in die Ehe?!
Vor dem Traualtar hatte sich etwas Weißes ausgebreitet, in dessen Schleier sich das durch das große Kreuzblumenfenster eindringende Sonnenlicht spiegelte. Philomena sah fett und glücklich aus. Beim Einatmen schlürfte sie leicht, was darauf hindeutete, daß die Schwangerschaft selbst ihre Zunge noch hatte aufquellen lassen. Oder gediehen bereits jetzt, noch vor Beginn ihrer Ehe, die gewöhnlicherweise erst später zu erwartenden Marotten in ihrer üppigen, zukunftsträchtigen Natur?
Paolo konnte sich keinen Reim darauf machen. Gestern, an seinem Aussichtspunkt über dem See, hatte er, so interessiert er noch konnte, die großen und die kleinen Räuber beobachtet, welche die Schöpfung dort am Laufen hielten. Ehrfürchtig war er vor den Dolchwespen zurückgewichen, deren tiefer Brummton weithin hörbar ist. Die winzigen Springspinnen bedachte er mit einem mitleidigen Lächeln. Die vereinzelt umherstreunenden Katzen erinnerten ihn hingegen daran, wie liebenswert ein gefährliches Raubtier doch sein konnte – für einen, der nicht als Beute in Frage kam. Im Augenblick wohnte er quasi der Metamorphose eines Schmetterlings bei, allerdings in umgekehrter Reihenfolge, wie er zu wissen glaubte. Wann würde er als Raupe wohl fertig sein? Und was würde sie dann fressen? Sein letztes Quentchen Selbstachtung wahrscheinlich!
Gewiss hatten die Halluzinationen – wie Dottore d’ Annunzio prophezeite – wieder ihren Teil zur Beurteilung der Gegenwart beigetragen. Diesmal äußerten sie sich nur eben nicht in absurden Bildern, sondern in völlig unlogischen, dem organischen Ablauf eines Lebens widerstrebenden, Gedankengängen: in falschen Schlussfolgerungen.
Dann hatte sich wieder eine echte Halluzination mitten unter die Eindrücke der gewöhnlichen und der abstrakt verformten Realität geschlichen. Ein Engel schwebte aus dem Licht des Kreuzblumenfensters herab und umgab die Braut mit göttlichem Schein. Monsignore Eusebio hatte die beiden „Jas“ dem Menschenpaar schon entlockt und Paolo aufgefordert, der Schwangeren das Zeichen des ewigen Bundes, den Ring, an den Finger zu stecken, als der Engel zu bluten begann.
Die kostbare Flüssigkeit tropfte rubinfarben auf das weiße Kleid himmlischer Unschuld. Kurz darauf erfolgte ein Schrei, dann ein Knattern und eine Explosion, danach zuckte ein greller Blitz von draußen herein. Oder war es umgekehrt gewesen? Erfolgte der Explosionsblitz vor dem Krachen und dem Knattern?
Monsignore Eusebio brach, durch einen Streifschuß an der rechten Schläfe, bewusstlos vor dem Altar zusammen. Philomena wurde vor Schreck ohnmächtig. Die Schar der versammelten Gläubigen geriet in Aufruhr und draußen, vor der Chiesa, breitete sich eine große Blutlache vor dem goldenen Rolls Royce aus. Wie konnte das geschehen?
„Che una Pecca!“ (was für eine Sünde!) kreischte ein altes Weib, das, seiner Leibesfülle wegen, nicht schnell genug aus der Kirchenbank kam. Wer laufen konnte, strebte dem Ausgang zu. Nur Philomena war nicht von der Stelle zu bewegen. Paolo war leider viel zu schwach, ihren mächtig gewordenen Leib zu bewegen. Sie hochzuheben erwies sich als völlig unmöglich. Ersatzweise zerrte er an ihren Haaren und schlug sie ins Gesicht. Sie aber machte die Augen nur einen Spalt breit auf und lallte mit schwerer Zunge: „Was willst du, ich schnarche doch gar nicht?!“
Kommentare
Auch Teil 2 kann überzeugen -
Gern will den dritten man beäugen!
LG Axel
er folgt...
LG Alf
Teil 2 ist wahrlich interessant;
er kommt ja auch aus erster Hand.
LG Annelie
Danke sehr...ja, manchmal kome ich mir auch schon ein klein
wenig verrückt vor. Die Welt die ich sehe, kann es nicht wirklich geben...
LG Alf