Weißer Doppelpunkt

Bild zeigt Monika Jarju
von Monika Jarju

Vor mir sehe ich auf einmal die leere Mineralwasserflasche, die ich am Meia Praia fand nach den heftigen Sturmtagen. Das Meer spie Plastikmüll, eingedrückte Margarinedosen, Flaschenverschlüsse und verschrammte Kanister, Muscheln und Schlickhaufen aus. Da lag diese Flasche, neben ihr ein kleiner silbrig blauer Fisch, und zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich stieß sie mit dem Fuß an, drehte sie herum, denn plötzlich wollte ich dringend ihren Herkunftsort wissen. Triumphierend stach mir arabische Schrift ins Auge. Ich begann zu träumen. Sie hatte den umgekehrten Weg über das Meer genommen, war von der Flut ans Land gespült worden. BARAKA stand auf dem Etikett, das bedeutet Segenskraft im Islam, ein Zeichen Gottes.

Einige Jahre zuvor hatte ich in Westafrika gelebt und wusste, dass im islamischen Glauben Gegenstände mit diesem Segensspruch fantastisch aufgeladen werden konnten, besonders Wasser. Schon fühlte ich mich hinübergezogen auf die andere Seite des Meeres. Kam diese Flasche aus Marokko? Das war weit weg. Oder war sie sogar aus Algerien angespült worden und hatte die lange Reise über das schwere Meer unbeschadet überstanden? Ich dachte an meine Freunde auf der nordafrikanischen Seite. Tranken sie dieses Wasser? Konnte ich ihnen etwa eine Flaschenpost schicken in meiner portugiesischen Mineralwasserflasche? Sofort ging ich ins Internet-Café und sendete ihnen Mails. Prompt erschienen ihre Antworten auf dem Bildschirm.

Wenn ich aus dem Fenster über den Strand von Boumérdes hinüberschaue, scheint er mir als Verlängerung deines Strandes in Portugal. Die Ähnlichkeiten, die ich auf deinen Fotos erkenne, die Landschaft, die weißen Häuser, ich war niemals in Portugal, aber vor vielen Jahrhunderten eroberten die Muslime diesen Küstenstrich. Ich sehe deine Haare im Wind wehen, so nah bist du – schrieb der algerische Freund.

Über den Atlantik und das Mittelmeer, aus dem Osten, schrieb der Freund: Ich stehe wie der Fiedler auf dem Dach meines Hauses und schippe endlos Schnee. Ich wünschte, ich wäre in deiner Sonne.
Er schickt mir ein Foto von einem aufsteigenden Vogelschwarm in Form eines Herzens über einer gefrorenen Schneelandschaft. Aber wie speichere ich ein fliegendes Herz ab und noch dazu auf einem Computer, der nur portugiesisch versteht?

An den Küstenrändern der Kontinente verschwimmen die Grenzen hinter dem Horizont und reichern das Meer mit starken Träumen an, spüre ich. Die Wolken ziehen über uns hinweg und hinterlassen blasse Konturen unserer Fantasien.

Ich rieche den Duft der See und höre das Gekreisch der Möwen, ich sehe dich am gegenüberliegenden Strand in der Sonne zu mir herüber starren, ich winke dir zu, schrieb der marokkanische Freund – Wir atmen die gleiche Luft.

Die Flasche war aus Marokko.

Der Reiseführer bläht sich auf im Wind, ich greife ihn fester, bevor er mir aus der Hand weht. Und lese weiter von den Mauren, die aus Gibraltar segelnd, dem Endpunkt der Sahara-Karawanen, an der Algarve landeten und 716 Lagos eroberten. Es folgten jahrhundertelange Kämpfe zwischen Mauren und Portugiesen. Die Stadt fiel zeitweilig an die Portugiesen zurück, wurde jedoch wieder von den Mauren besetzt. Es sollte noch fast 500 Jahre dauern, bis Dom Paio Peres Correia mit militärischer Unterstützung deutscher und englischer Ritterorden die Stadt 1241 endgültig zurück gewann. Ich stelle mir diesen neuen damaligen Schiffstyp vor, die Karavelle, die ähnlich der arabischen Dhau hoch im Wind segelt und auch gegen die bestehende Windrichtung kreuzen konnte. Ein Hafen voller Illusionen, Sehnsüchte und Hoffnungen. Ich lausche dem Wind, sehe in Gedanken von Ceuta her andere Boote auf dem Meer, einfachere Boote, die tief und überfüllt im Meer wogen. Die Boote der heutigen Eroberer, der Afrikaner aus dem tiefen Innern des Kontinents, die nun zu ihren Träumen von einem besseren Leben aufbrechen und Kurs auf das spanische Festland nehmen. Unter ihnen meine Freunde aus Schwarzafrika.

Ich denke an Doudou, der es bis in die Türkei schaffte, bevor er deportiert wurde. In Gambia traf ich ihn wieder, als er seinen Traum von einem Elektronikstudium in England unter der schmutzigen Wäsche englischer Touristen in einer Hotelwäscherei begrub. In meinen Gedanken verbinden sich Bilder, Erinnerungen mit Geschichten. Auf Schritt und Tritt gerate ich in Zusammenhänge, Beziehungen. Allein die Vorstellung genügt und ich überwinde Zeiten und Orte, befinde mich zwischen Portugal und Afrika, Schreibtisch und Atlantikstrand, Hotelwäscherei in Gambia und Sklavenhaus auf Goreé. Und wie mich diese Aufspaltung ahnend macht und ruhig, während ich im Reiseführer weiter lese.

1444 kamen die ersten Afrikaner aus dem Senegal und Guinea in Lagos an. Sie waren damals schon keine Weltreisenden und auch keine Touristen. Sie wurden verschleppt, als Sklaven verkauft. Vor dem ehemaligen Zollgebäude stehend, indem der Sklavenmarkt stattfand, ist mir, als öffne sich vor mir der Abgrund der Zeit. Ich stelle mir vor, wie sie über diesen Boden gingen. Wovon träumten sie? Im Inneren befindet sich eine Galerie mit wechselnden Kunstausstellungen. Was damals hier geschah, davon finde ich keine Spur.

Erst zwei Jahre später, ich bin wieder in Lagos, bemerke ich die Veränderung. Das Haus beherbergt nun eine Gedenkausstellung. Der Raum liegt im Halbdunkel, die Auslagen in den Vitrinen ziehen meinen Blick an. Ich betrachte Silbermünzen, schwarze Münzen, in Steinen steckend, mit denen sich Sklaven freikauften. 1944, lese ich, legte das erste Schiff aus Guinee mit 230 Sklaven an Bord im Fort von Lagos an. Es waren Männer, Frauen und Kinder im erbarmungswürdigen Zustand, weinend, verzweifelt, fassungslos. Unter ihnen Tote, die Überreste ihrer Körper wurden wie Hausmüll fortgeworfen.
In einer Vitrine liegt ein zusammengekrümmtes Skelett, daneben Tonscherben, Ringstücke, Reste von Armbändern, Schmuckteile, afrikanische Holzfiguren geschmückt mit Glasperlen. Die Ausstellung ist ein Projekt, lese ich, der Beginn der Aufarbeitung eines düsteren Kapitels der Geschichte Portugals, dass als eines der letzten Länder erst 1974, infolge der Nelkenrevolution und der Amtsenthebung Salazars, seine Kolonien in die Unabhängigkeit entließ. Freundschaftliche Verbindungen bestehen nun zu allen ehemaligen Kolonien, ebenso zur ehemaligen Sklaveninsel Goreé vor Dakar.

Ich fühle mich nach Goreé versetzt, entsinne mich, wie mein Blick durch eine schmale Maueröffnung auf die unüberschaubare Weite des Atlantischen Ozeans fiel. Ich stand genau an der Stelle, wo Sklaven verladen und nach Amerika verschifft wurden. Mein Atem stockt bei der Vorstellung, in mir verstärkt sich das Grauen. Ich rühre mich nicht von der Stelle. Lange stehe ich so, bis ich wieder den Raum wahrnehme. Die wenigen Zeugnisse, Überbleibsel, Erklärungen an den Wänden sprechen als Auslassungen zu mir, zeigen Leerstellen auf im historischen Gedächtnis. Wie lebten Afrikaner in Portugal? Welche Arbeiten verrichteten sie? Und wie stehen die Portugiesen heute zu ihrer Vergangenheit? Der Raum ist leer, außer mir und der Frau, die am Eingang stumm den Fußboden wischt, ist niemand hier. Sie schaut zu Boden, wischt weiter, während ich erschüttert hinausgehe, an Afrikanern vorbei, die Taschen, Gürtel, Ketten, Glasperlenschmuck auf dem Boden ausbreiten. Mit finsteren Mienen warten sie auf Käufer.
...
(Seite 113 - 123 im Buch)

Wo käme ich hin, wenn ich weiterginge – Vom Aufbrechen und Fortgehen, erzählt wird von der Schönheit der Umwege

Veröffentlicht / Quelle: 
Von der Schönheit der Umwege:Prosa & Lyrik, ISBN 978-3-7418-1644-4, Verlag epubli Berlin
Prosa in Kategorie: 
Noch mehr von der Persönlichkeit → Monika Jarju