Tom, wo bist du?

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von Annelie Kelch

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Seit langer Zeit fuhr ich zum ersten Mal wieder allein in den Urlaub. Mein Verlobter galt seit zwei Jahren offiziell als vermisst und ich hoffte, in dem idyllischen Badeort, den eine Bekannte mir empfohlen hatte, nicht nur Ablenkung und Entspannung zu finden, sondern auch neue Kräfte für meinen stressigen Büroalltag in einem Grandhotel tanken zu können.

„Die Auszeit wird dir gut tun, Kitty.“ Meine langjährige Kollegin Mira, die mich während meiner Abwesenheit im Hotel vertreten sollte, lächelte mir aufmunternd zu. „Und falls es dir dort besonders gut gefällt, hänge ruhig noch eine Woche dran.“ Ihre Augen glänzten und sie zwinkerte mir vertraulich zu.
„Was meinst du mit 'besonders gut', Mira?“, fragte ich misstrauisch.
„Nun, ja“, erwiderte sie zögernd, „ich finde, seit Tom...“ Sie schwieg verlegen.
„Tu dir bloß keinen Zwang an“, wies ich sie zurecht. „Du wolltest wohl sagen, seit Tom auf und davon ist und mich sitzen lassen hat.“
Ich ließ sie deutlich spüren, wie sehr es mir missfiel, dass sie sich in meine Angelegenheiten mischte.
„N-nein-nein, Kitty, keineswegs“, stammelte sie bestürzt. „Ich wollte nur sagen, dass du tugendhafter als eine Nonne lebst, seit Tom nicht mehr an deiner Seite ist. Dazu bist du doch noch viel zu jung; wir hoffen alle sehr, dass du im Urlaub einen netten Mann kennen lernst.“ Sie strahlte wie eine Bilderbuchsonne.
„Vielleicht ist Tom ermordet worden“, belehrte ich sie mit ernster Stimme. „Der Kripobeamte sagte damals, es sei durchaus möglich, dass skrupellose Geschäftspartner sich seiner entledigt hätten.“

Ich war den Tränen nahe, wie immer, wenn dieses Thema zur Sprache kam. Tom war meine große Liebe. Ich konnte ihn einfach nicht vergessen, und es wollte mir nicht in den Sinn, dass er sich allein wegen seiner Schulden, von denen ich erst Wochen später erfuhr, aus dem Staub gemacht hatte, noch dazu, ohne sich von mir zu verabschieden. Am Tag seines Verschwindens wollten wir uns zum Mittagessen in der City treffen. Als er nicht erschien und auch nicht telefonisch erreichbar war, kamen mir zwar ungute Gedanken, ich hoffte jedoch, harmlose Gründe, wie etwa ein unvorhersehbarer Geschäftstermin, hätten ihn daran gehindert, unsere Verabredung einzuhalten.
Wir waren am Abend zuvor bei seinen Eltern zu Gast gewesen, und nichts, aber auch rein gar nichts, deutete darauf hin, dass er mich verlassen wollte. Im Gegenteil: Wir waren verliebt wie in den ersten Wochen unserer Bekanntschaft.

„Ihr beiden Turteltauben“, hatte mein Schwiegervater in spe beim Abschied gescherzt, und als mein Blick zufällig in den Garderobenspiegel fiel, sah ich ein glückliches Paar mit strahlenden Gesichtern.
Als mein Verlobter eine Woche später immer noch nicht aufgetaucht war, schaltete ich die Polizei ein und erstattete Vermisstenanzeige. Die Ermittlungen ergaben, dass Tom seiner Bank eine hohe Geldsumme schuldete. Er habe auf Mahnungen seit Wochen nicht mehr reagiert.
Tom war Pächter einer Autowerkstatt und handelte mit Neu- und Gebrauchtwagen. Mir gegenüber hatte er zu keinem Zeitpunkt erwähnt, dass er in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten sei.
Bald stellte sich heraus, dass ihm etliche Gläubiger auf den Fersen waren; aber alles, was ich zur Klärung seines Verschwindens beitragen konnte, war, dass er kurz zuvor durchblicken ließ, es stünde der Verkauf eines wertvollen Gebrauchtwagens bevor. Das Fahrzeug sei praktisch wie neu, ein Rasseschlitten, den er günstig erworben habe. Er hätte sogar schon einen Käufer an der Hand, das Geschäft solle in wenigen Tagen 'über die Bühne gehen'. Die beiden Teilzeitkräfte, die damals in seiner Werkstatt als Mechaniker angestellt waren, gaben später zu Protokoll, sie hätten von diesem Deal keine Ahnung gehabt.

Nachdem weder Inlands- noch Auslandsfahndungen positive Ergebnisse brachten, wurde ich zusehends mutloser und litt zeitweilig unter schweren Depressionen. Hinzu kam, dass Tom unsere Wohnung verlassen hatte, ohne auch nur einen einzigen persönlichen Gegenstand mitzunehmen. Seine Kleidung war so gut wie vollständig, und seine Toilettenartikel, die er für eine längere Reise benötigt hätte, befanden sich sämtlich in seiner Kulturtasche, die im Badezimmer auf einer Ablage stand. Sogar seine Lesebrille lag noch neben dem Automagazin, das er am Tag zuvor überflogen hatte.
Ich machte mir große Vorwürfe, dass ich nicht einmal geahnt hatte, wie tief mein Verlobter in der Klemme saß. Fast täglich stellte ich mir die Frage, weshalb er mich nicht ins Vertrauen zog; gemeinsam hätten wir seine Probleme gewiss in den Griff bekommen.

Durch Miras Äußerungen war alles wieder hochgekommen, auch meine tiefen Gefühle für Tom, und als ich im Intercity saß, dachte ich mit Wehmut an die schöne Zeit zurück, die wir miteinander verbracht hatten, und die nun weit hinter uns lag. Dass er mich aus freien Stücken verlassen haben könnte, war für mich undenkbar.
Es war nicht einfach gewesen, den Polizeibeamten, der meine Vermisstenanzeige damals aufnahm, davon zu überzeugen, wie glücklich Tom und ich miteinander waren. Ich wurde den Eindruck nicht los, dass er meinen Worten wenig Glauben schenkte und es ging mir von Tag zu Tag schlechter.
In Deutschland würden täglich bis zu 250 Menschen vermisst, klärte mich ein Kripomann in einem Telefongespräch auf, das ich ein halbes Jahr nach Toms Verschwinden führte, allerdings bleibe jede Personenfahndung bis zu 30 Jahren bestehen, sofern die Vermisstensuche noch nicht aufgeklärt sei. Ein schwacher Trost, dachte ich.
Ich liebte Tom nach wie vor; seine Abwesenheit änderte nicht das Geringste an meinen Gefühlen, und allein der Gedanke, er könne nicht mehr am Leben sein, quälte mich entsetzlich. Abend für Abend setzte ich mich an meinen Schreibtisch und schrieb lange Briefe an ihn, die ich in einem Geheimfach verwahrte. Das half mir ein wenig über meine Traurigkeit hinweg. Ich stellte mir immer wieder den glücklichen Tag vor, an dem ich ihm das Bündel feierlich überreichte würde, wenn er wieder bei mir wäre.

Wir lernten uns vor fünf Jahren im „El Grecco“ kennen, jenes Hotel, das mich nach wie vor als Angestellte beschäftigt. Damals war ich dort noch Zimmermädchen. Tom, der am Stadtrand eine Autowerkstatt gepachtet hatte, suchte dringend eine Wohnung und übernachtete derweil in einem unserer Räume. Er stammte aus einem Dorf unweit meiner Heimatstadt. Seine Eltern betrieben dort einen Gemischtwarenhandel, der mit der Zeit unrentabel wurde. Die Leute kauften in dem kleinen Geschäft nur noch jene Sachen ein, die sie in der Stadt vergessen hatten. Schließlich gaben Toms Eltern den Laden auf und zogen

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