Tom, wo bist du? - Page 2

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von Annelie Kelch

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ebenfalls nach B., hauptsächlich deshalb, weil Tom, ihr einziger Sohn, sich dort niedergelassen hatte.
Tom, der ursprünglich Automechaniker war, verfügte über solide organisatorische und kaufmännische Fähigkeiten. Sein kleines Unternehmen lief von Anfang gut; ich habe nicht mitbekommen, wann die Krise eintrat. Wenn er am späten Abend nach Hause kam, waren wir meistens viel zu erschöpft, um noch berufliche Dinge zu erörtern. Es kam häufig vor, dass Tom vor dem Fernseher einschlief. Zuweilen schmiss er den Autohandel und die Werkstatt ganz allein, ohne einen einzigen Mitarbeiter. Ob er seine Eltern, die in einer Eigentumswohnung nahe der Innenstadt lebten, finanziell unterstützt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich wollte nicht neugierig sein. Im Nachhinein frage ich mich jedoch, ob nicht eventuell hohe Zuwendungen an meine künftigen Schwiegereltern, denen ich mich nach wie vor sehr verbunden fühle, für sein berufliches Scheitern mitveranwortlich waren.
Diese Gedanken schwirrten wie Kolibris in meinem Kopf herum, aber als ich nach vier Stunden aus dem Zug stieg, streckte die Sonne ihre warmen Fühler nach mir aus, und ich fühlte mich augenblicklich zu dem malerischen Badeörtchen hingezogen. Wie verzaubert lief ich durch die schmalen Gassen der Altstadt. Ein frischer Südwind blies meine Sorgen fort und löste sie in Luft auf. Es dauerte keine zehn Minuten und ich stand vor dem Portal des Strandhotels. Die weiß getünchte Fassade harmonierte hervorragend mit den in Blau gehaltenen Simsen vor den Fenstern.
Als sei ich bereits erwartet worden, trat ein Portier aus der gläsernen Eingangstür, begrüßte mich und nahm mir meinen Koffer ab. Was für ein Service, dachte ich, schwer beeindruckt von der Aufmerksamkeit, die man mir zuteil werden ließ und die für ein kleines Unternehmen wie jenes unüblich war. Ich hatte Glück gehabt, dass ich an ein freundliches Hotel mit freundlichen Angestellten geraten war. Wer kann schon im Voraus wissen, was sich hinter den sonnigbunten Glanzfotos der Reiseprospekte verbirgt ...
Niemand hier ahnte, dass ich vom Fach kam, niemand kannte mich hier... glaubte ich zumindest.
Das Zimmer, das man mir zuwies, war behaglich eingerichtet und sauber. Ich wollte sofort ans Meer, hatte mich die ganze Fahrt über auf einen Spaziergang am Wasser gefreut; deshalb tauschte ich sogleich mein Reisekostüm gegen Jeans und T-Shirt und verließ das Hotel. Die Nordsee lag um die Ecke, und als ich nach drei Stunden wieder zurück war, bestellte ich ein üppiges Abendessen. Die Meeresluft hatte mir Appetit gemacht; ich war hungriger als eine Löwenmutter nach einem Wurf und schlief in der ersten Nacht tief und fest wie schon lange nicht mehr.
Zu Hause hatte ich mir vorgenommen, lange Wanderungen auf dem Deich und am Strand entlang zu unternehmen, und als ich am nächsten Abend erschöpft ins Hotel zurückkehrte, stand eine Vase mit roten Rosen auf dem Tisch vor dem Fenster. Am darauffolgenden Tag fand ich eine Schachtel mit teuren Pralinen auf dem Nachtschrank, und wiederum einen Tag später lagen zwei Theaterkarten auf meinem Kopfkissen. Ich nahm sie an mich und lief hinunter in die Hotelhalle. Der Empfangschef, ein gut aussehender Mann zwischen Ende dreißig und Mitte vierzig, strahlte mich an. Ich zeigte ihm die Platzkarten und stammelte: „Diese Karten... ich habe sie soeben gefunden; sie lagen in meinem Zimmer, auf dem Kopfkissen.“
„Ich weiß“, lächelte er, „ich habe sie dort hingelegt. Unser Theater spielt heute Abend Shakespeares „Othello“. Ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn Sie sich entschließen könnten, mich zu der Vorstellung zu begleiten. Wir haben momentan großartige Schauspieler unter Vertrag.“ Er streckte mir seine Hand entgegen und sagte: „Wersig ist mein Name, Janosch Wersig. Ich bin der Geschäftsführer.“ Ich erwiderte seinen Händedruck und wollte mich vorstellen, aber er winkte ab.
„Ich kenne Ihren Namen längst, Katharina“, sagte er. „Seit einer geraumen Weile schon, aber davon erzähle ich Ihnen später.“ Ich sah ihn sprachlos an. Ich konnte mich nicht erinnern, diesem Mann jemals begegnet zu sein. Davon abgesehen, hatte ich nicht die geringste Lust auf einen Theaterbesuch; aber ich scheute mich, seine freundliche Bitte abzuschlagen. Janosch Wersig war ein sympathischer Mann und schien sich riesig auf den Abend mit mir zu freuen. Vielleicht hat er sonst niemanden, den er fragen könnte, dachte ich und machte mich auf den Weg in die Stadt, um ein passendes Outfit zu besorgen.

„Ich kenne Sie schon eine Ewigkeit, Kitty“, sagte Wersig, als wir auf dem Weg ins Theater waren. „Ich darf Sie doch „Kitty“ nennen?“
„Gern“, erwiderte ich, „aber woher wissen Sie...“
„Erinnern Sie sich an die weißhaarige alte Dame, die bei Ihnen in der Lindenallee im Haus gegenüber wohnt?“, fragte er und warf mir einen verschmitzten Blick zu.
„Ach, Sie meinen Frau Bender!“, rief ich überrascht aus.
„Genau die“, bestätigte Wersig. „Das ist meine Tante Gundel, die ich manchmal besuche, wenn ich das Wochenende über frei habe. Als ich vor vierzehn Tagen das letzte Mal bei ihr war, standen Sie auf dem Balkon und haben Ihre herrlichen Geranien gegossen. Tante Gundel hat mich wieder mal auf Sie aufmerksam gemacht.
„Dort oben steht die hübsche junge Frau, die sich immer so nett mit mir unterhält“, hat sie lächelnd gesagt. „Ich habe dir unlängst von ihr erzählt, Janosch. Wäre das nicht die Richtige für dich? Soviel ich weiß, ist sie wieder alleine.“
Ich errötete bis zu den Haarwurzeln, und Wersig stammelte: „Verzeihen Sie, Kitty, es lag nicht in meiner Absicht, Sie in Verlegenheit zu bringen.“
Ich räusperte mich und sagte: „Was Ihre Tante Ihnen erzählt hat, entspricht nicht der Wahrheit. Ich bin verlobt. Tom befindet sich auf einer längeren Geschäftsreise im Ausland.“ Fast glaubte ich selbst, was ich mit leichter Zunge preisgab.
„Schon gut, Kitty“, sagte Wersig. „Das geht mich nichts an. Ich wollte nicht neugierig sein. Lassen Sie uns diesen schönen Abend einfach nur genießen.“

Nach der Theatervorstellung, die meine Erwartungen bei weitem übertraf, lud Janosch mich in eine kleine Fischerstube zum Krabbenessen ein. Später leerten wir eine Flasche Rotwein und unterhielten uns angeregt über unsere Hoteljobs. Janosch liebte seinen Beruf genauso wie ich meinen, und wir kamen aus dem Plaudern nicht mehr heraus.
Wir gingen zu Fuß ins Hotel zurück. Es war weit nach Mitternacht. Janosch wollte seinen Wagen, der in einer kleinen Parkbucht stand, erst gegen Mittag abholen, wenn er wieder vollkommen nüchtern sei. Er habe sich den Tag nach der Vorstellung extra freigenommen, um mit mir feiern zu können.
Als Janosch mich fragte, ob ich den Nachmittag mit ihm am Strand verbringen wolle, hüpfte mir vor Freude das Herz in der Brust. Und ob ich wollte! Ich fühlte mich dermaßen wohl in seiner Gegenwart, dass ich mich selbst kaum wiedererkannte. Wir duzten uns längst und sein Name kam mir so leicht über die Lippen, als wären wir alte Bekannte.

Die sonnige Bucht war gut besucht. Wir fanden ein schattiges Plätzchen unter einem Felsvorsprung und breiteten die Wolldecke aus, die Janosch aus dem Hotel mitgebracht hatte. Es war schön, neben ihm zu sitzen und den Blick über das glitzernde Meer wandern zu lassen, das sich im Gegensatz zu uns Menschen dem Bann der glühenden Sonne nicht entziehen kann. Janosch legte seinen Arm um mich, und ich fühlte mich plötzlich so leicht, als sei eine schwere Last von mir genommen, als trüge der leichte Luftzug, der vom Wasser herüberwehte, alle meine Sorgen davon. Ich wollte gerade meinen Kopf an Janosch’ Schulter lehnen, als mir ein Mann auffiel, der mit gesenktem Kopf am Strand entlangstapfte.
'Tom', zuckte es wie ein Blitz durch meinen Kopf. Der Unbekannte trug sein Haar länger als Tom es bei seinem Verschwinden getragen hatte, und sein Kinn war fast vollständig von einem Bart bedeckt. Er ging leicht gebeugt, die Hände hinter dem Rücken ineinander verschlungen, eine Körperhaltung, die ich niemals an Tom wahrgenommen hatte, und doch... Ich verfolgte den Fremden mit unruhigen Blicken und hoffte, er möge seinen Kopf zur Seite wenden, damit ich sein Gesicht betrachten konnte, aber der Mann blickte weder nach rechts noch nach links.
Ich war aufgesprungen und sagte mit belegter Stimme: „Bitte, Janosch, lass uns zurück ins Hotel gehen. Wir dürfen uns nicht mehr treffen. Du bist ein sehr lieber Mensch, aber...“
„Kein Problem, Kitty“, fiel Janosch mir ins Wort. „Du brauchst mir nichts zu erklären. Ich hoffe nur, dass du dich mir anvertraust, sollten deine Sorgen dich erdrücken. Möglich, dass ich dir helfen kann.“
„Danke“, sagte ich. „Ich weiß das zu schätzen.“

Wortlos schlenderten wir zum Hotel zurück. Als wir die Halle betraten, zuckte ich heftig zusammen: Der Lift hatte sich geöffnet, und der Fremde vom Strand, den ich für Tom gehalten hatte, trat heraus. Er sah Tom zum Verwechseln ähnlich, obwohl er, aus der Nähe betrachtet, ein paar Jahre älter sein musste. Sein braungebranntes Gesicht war von etlichen Fältchen durchzogen.
„Kennst du den Mann, der soeben den Fahrstuhl verlassen hat?“, fragte ich Janosch mit zitternder Stimme.
Er sah mich besorgt an und sagte: „Das ist Niels Herschel, ein Biologe. Er kommt seit vielen Jahren zu uns, jeden Sommer um die gleiche Zeit; aber immer nur für wenige Tage. Er interessiert sich für Schwämme und Quallen. Sagt dir sein Name was?“
„Nein, keineswegs“, beeilte ich mich zu sagen. „Es ist nur, nun ja, er schaut jemandem, den ich gut kenne, zum Verwechseln ähnlich.“

„Wir sehen uns beim Abendessen, Kitty. Ruh dich ein wenig aus“, sagte Janosch, als wir vor dem Lift standen. Ich fuhr wie betäubt in den dritten Stock hinauf, und kaum dass ich mein Zimmer betreten hatte, warf ich mich aufs Bett und weinte in das Kopfkissen, das ich wie einen Rettungsanker umschlungen hielt. Die Vertrautheit, die sich zwischen Janosch und mir eingestellt hatte, würde von Tag zu Tag wachsen, daran bestand für mich kein Zweifel. Ich würde mich in ihn verlieben, ihn in mein Herz schließen, die Zukunft mit ihm planen, Tom vergessen...
„Nein, niemals!“ Der verzweifelte Klang meiner Worte, die ich gegen meinen Willen laut hervorgestoßen hatte, trieb mich aus dem Bett. Meine Tränen waren längst versiegt. Ich hatte mich gründlich ausgeweint.
Nachdem ich mich ein wenig erfrischt hatte, packte ich meinen Koffer und begab mich nach unten. Der Empfangsraum war leer, wie meistens über Mittag, bis auf zwei kleine Mädchen, die eng aneinandergeschmiegt in einem Clubsessel saßen und auf ihre Eltern warteten. Sie lasen in einem Kinderbuch, das aufgeschlagen auf ihren Knien lag, ein rührendes Bild.
Auf dem Tresen lag das Gästebuch, und die Zimmerschlüssel hingen fast vollzählig am Brett. Janosch hatte mir erzählt, dass alle Räume belegt seien. Die meisten Gäste waren ausgeflogen, nutzten das gute Wetter zum Baden oder für Ausflüge in die nähere Umgebung.
Ich erklärte dem erstaunten Empfangsmitarbeiter, dass ich meinen Urlaub leider abbrechen müsse. Meine Mutter sei plötzlich erkrankt, ich würde dringend zu Hause erwartet.

Ich weiß, dass meine überstürzte Abreise Janosch gegenüber nicht fair war, und mich überfällt jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn mir seine Tante über den Weg läuft. Sie schaut mich jedes Mal mit tieftraurigen Augen an, während wir miteinander plaudern – als wisse sie von Toms rätselhaftem Verschwinden, um das sich mein ganzes Leben dreht. Aber ich will kein Mitleid. Irgendwann, dessen bin ich mir sicher, wird mich die Türklingel aus diesem Alptraum reißen, und wenn ich öffne, wird Tom vor mir stehen und nie wieder von mir fortgehen.

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