Kurzmitteilungen

Bild zeigt Erhard Schümmelfeder
von Erhard Schümmelfeder

Nach der Arbeit fuhr er sogleich heim. Zäh-flüssiger Feierabendverkehr in der Stadt machte ihn gereizt und nervös. - Anfahren, Bremsen, Weiterfahren, Halten vor der roten Ampel, Hupsignale ungeduldiger Drängler, Anfahren, Halten, Weiterfahren ... Mit einem Seufzer der Erleichterung erreichte er sein Haus am Stadt-rand. In der Stille der Wohnung vernahm er das Ticken der Küchenuhr. Er war allein. Auf dem Küchentisch entdeckte er den von einem Spi-ralblock abgerissenen Zettel mit einer Nachricht seiner Frau. Er nahm das mit blauem Kugel-schreiber beschriftete Blatt, rückte seine Brille zurecht und las die aus sechs knappen Worten bestehende Botschaft: Ich habe einen Termin beim FA.
Ihre Kurzmitteilungen an ihn waren eine An-sammlung von oft rätselhaften Abkürzungen, die er nicht immer auf Anhieb zu durchschauen vermochte. FA?, überlegte er. Was bedeutete das? - Fach-Arzt, kam ihm in den Sinn. Ja, darüber hatte sie am Vortag gesprochen: Eine Frauen-geschichte.
Er faltete den Zettel zusammen und warf ihn in die Vase auf dem Eichensideboad im Flur, wo er alle ihre Informationen aufbewahrte, die ver-hindern sollten, dass er sich bei ihrer Abwesen-heit »unnötige Sorgen« machte. Er hatte sich längst vorgenommen, mit seiner Frau über die seiner Ansicht nach unschöne Verwendung von Abkürzungen zu reden. Seine beiden Kinder kritisierte er immer wieder, wenn sie bei ihren banalen SMS-Kommunikationen Abkürzungen wie LOL, LG, WMS, WFT oder KA ver-wendeten, statt vollständige Sätze zu formu-lieren. Wie sollte er sprachästhetische Werte an seine Kinder vermitteln, wenn auch ihre Mutter sich der wortverstümmelnden Kurzform ver-schrieben hatte? Er wollte heute noch mit ihr darüber reden. Um seine Kritik zu untermauern, suchte er unter den raschelnden Zetteln in der blumenverzierten Porzellanvase nach besonders empörenden und frevelhaften Beispielen, die er nach dem Abendbrot zu präsentieren gedachte. Sofort wurde er fündig. Er las: Der Einkauf steht im HF. Er überlegte angestrengt. HF? - Hausflur? - Ja. - Die Blumen im WZ sollten heute noch gegossen werden. Nicht vergessen! - War es für sie zu zeit-raubend, die Begriffe vollständig auszuschrei-ben? - Die Geschenke für die Kinder habe ich im SZ versteckt. - HF, WZ, SZ, BZ - für ihn waren alle Abkürzungen gleichermaßen verwerflich. Dann aber entdeckte er einen Zettel, der eine unerhörte Eskalation darstellte, weil er seinem ästhetischen Empfinden fast den Todesstoß versetzte: Schatz, denkst du daran, das KZ zu lüften?

Eine Kurzgeschichte über Sprchästhetik im Wandel der Zeit.

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