Als sie ihr Gehör verlor, wusste eigentlich niemand so recht, warum.
Die behandelnden Ärzte sprachen von Stress.
Ihre Bekannten fragten: "Wieso denn das?! Sie hat doch immer Zeit für uns und ein offenes Ohr für unsere Probleme."
Ein Nachbar bedauerte vorwurfsvoll: "Damit zerstört sie das Bild der Ruhe, das ich von ihr habe!"
Der erste Chef zweifelte: "Aber was tut sie denn schon groß! STRESS kann das nicht sein."
Und ihr zweiter Chef stimmte dem zu, denn schließlich sei er ja die meiste Zeit außer Haus, und außerdem würden die Überstunden von selbst wegfallen, wenn sie nur schneller arbeite.
Klienten wünschten: "Gute Besserung! Aber nächste Woche wird sie wohl wieder da sein?"
In der einen Redaktion schüttelte man die Köpfe: "Das bisschen Organisation und Layout ...", während man in der anderen verständnisvoll meinte: "Sie kann sich ruhig Zeit lassen, die beiden Artikel brauchen wir erst in 14 Tagen - und schließlich ist ja alles ehrenamtlich."
Unbeeindruckt feilte ihr Hauswirt an einer wirksameren Formulierung für die Mieterhöhung. In der Zwischenzeit füllte ihr Kontoführer achselzuckend rote Tinte nach und der Finanzbeamte runzelte die Stirn über ihrer Steuererklärung.
Im VHS-Kurs wunderten sich die Mit-Lernenden: "Komisch. Ist doch nur einmal die Woche ..."
Vereinsmitglieder sprachen ihre Betroffenheit aus und diskutierten, ob sie sich nicht vielleicht doch noch einmal zur Wiederwahl stelle, wenn sie sich kuriert habe?
Ihr Haushalt drückte mit ungeputzten Fenstern inzwischen beide Augen zu.
Eine Freundin klagte: "Also, ich weiß nicht - ihre früheren Texte waren farbiger ..."
Ihre Mutter mahnte: "Das Kind verliert zu viel Zeit mit dem Schreibkram. Es sollte lieber etwas Nützliches tun!"
Ihre Tochter grübelte: "Wenn man bedenkt, dass sie am Wochenende eigentlich nur schläft ...!?"
Ihr Freund reagierte erstaunt: "Also, an MIR kann es nicht liegen, ich tu' ihr doch nur Gutes!! Ich rufe sie sogar täglich an - und sei es um Mitternacht - oder später!"
Und ihre innere Stimme raunte ihr zu: "Siehst du?! Wenn du auf MICH gehört hättest ..."
noé/1990