„Ich habe die ganze Nacht auf dich gewartet, Cordula.“ - Meine Mutter warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, als Pavel und ich das Haus betraten.
„Ist Sally inzwischen hier gewesen oder hast du einen Anruf von ihr erhalten, Mama?“, fragte ich atemlos.
„Nein, aber d u hättest mich wenigstens anrufen können. Wenn du wüsstest, was für Ängste ich ausgestanden habe.“
„Ich hätte dich ganz gewiss angerufen, Mama, wenn man mich nicht betäubt und gekidnappt hätte.“
Meine Mutter schüttelte verständnislos den Kopf.
„'Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um', ein altes und sehr wahres Sprichwort. Der arme Pavel musste extra wegen dir seine Arbeit im Restaurant unterbrechen, um dich aus München herzuschaffen. Ich habe ihn benachrichtigt, nachdem von dir kein Lebenszeichen mehr kam.“
„Das hättest du gut und gern unterlassen können, Mama“, sagte ich. „Ich wäre auch von allein nach Hause gekommen.“
„Ohne Sally?“ Pavel sah mich zweifelnd an.
„Vielleicht auch nicht, Pavel“, erwiderte ich leicht gereizt. „Und jetzt habe ich noch eine Sorge mehr, die Sorge um Georg!"
„Wer ist Georg?“, fragte meine Mutter, „muss ich mir Gedanken um dich machen, Cordula?“
„Nein“, sagte ich. „Ganz und gar nicht, aber Georg ist ...“
Mir schossen Tränen in die Augen.
Meine Mutter sah Pavel fragend an.
„Georg Salomon wollte Cordula helfen, Sally zu finden. Salomon ist ein Revuestar aus München und kennt viele Leute aus der Rotlichtszene. Er und deine Tochter wurden mit k.-o.-Tropfen betäubt und danach entführt. Cordula konnte mit Georgs Hilfe flüchten und die Polizei rufen; aber als sie mit den Beamten am Tatort eintraf, war Georg nicht mehr da, stattdessen fand man Blut in jenem Raum, worin beide gefangengehalten wurden.“
„Um Gottes willen“, sagte meine Mutter. „Was muss noch alles geschehen, bis Sally endlich gefunden wird?“
Pavel fuhr noch am selben Tag nach Hause. Er konnte sein Restaurant nicht länger ohne Beaufsichtigung lassen, obgleich er mir versichert hatte, dass seine Angestellten äußerst zuverlässig seien. Ich musste ihm versprechen, nie wieder nach München zu fahren, um dort auf eigene Faust nach Sally zu suchen.
„Das könnte sehr gefährlich werden und böse für dich enden, Cordula“, sagte Pavel. „Denk bitte auch an deine Mutter und an mich. Wir möchten nicht, dass dir dort noch einmal auch nur annähernd Gruseliges zustößt wie letzte Nacht.“
Als Pavel fort war, duschte ich und zog mir endlich frische Kleidung an. Dann machte ich mich auf den Weg zu unserem Polizeipräsidium, um den Beamten zu schildern, was sich zwischenzeitlich im Fall meiner Tochter Sally getan hatte. Ich wollte den hiesigen Sachbearbeiter bitten, sich mit dem zuständigen Revier in München in Verbindung zu setzen, damit wir auf dem Laufenden blieben, was den Stand der Ermittlungen betraf.
„Wie, sagten Sie, hieß der Eigentümer der Villa?“, erkundigte sich der ungewöhnlich interessierte Beamte, dem ich meine neuen Erkenntnisse schildern durfte.
„Justus von Segeberg“, sagte ich.
„Da war mal was, irgendwann in den Achtzigern, ich schau mal eben in unsere Datenbank, kleinen Augenblick, Frau Volkmann.“
Herr Langmer, so hieß der Polizist, verließ den Raum und kehrte nach zehn Minuten zurück. Ich hatte uns währenddessen zwei Becher Kaffee am Automaten auf dem Flur gezogen.
„Justus von Segeberg, Unternehmer und mehrfacher Millionär“, sagte Herr Langmer, nachdem er hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte. „Der Typ war in den Achtzigern in einen Party-Skandal verwickelt. An der Sex-Party sollen auch Minderjährige mitgewirkt haben. Leider reichten die Beweise damals nicht, um den Kerl verurteilen zu können. Wir, die Polizei, gingen davon aus, dass hohe Bestechungsgelder an die Eltern der drei minderjährigen Mädchen gezahlt wurden.“
„Ich habe diesen 'Herrn' in München kennengelernt“, sagte ich. „Dem ist alles zuzutrauen. Sein Wachhund Hasso hätte mich beinahe zerfleischt, wenn einer ihrer Münchener Kollegen ihn nicht vorher erschossen hätte.“
„Dieser 'Nick', wie er sich nannte oder immer noch nennt, hat Ihre Tochter wahrscheinlich vor der Schule abgefangen“, sagte Herr Langmer. „Möglicherweise handelt es sich bei dem jungen Mann um einen Handlanger aus dem Prostituiertenmilieu, der junge Mädchen ihren Elternhäusern entfremdet und sie Zuhältern zuführt, die wiederum einer Organistion unterstehen, deren Mitglieder - meistens handelt es sich dabei um weniger als fünf Männer - sich eine goldene Nase an dem Unglück der Verführten verdienen.
In den Niederlanden werden jedes Jahr rund 1500 junge Mädchen Opfer dieser Form von Prostitution. Nur selten wird Anzeige erstattet, weil die Opfer bedroht werden, sich schämen oder gar schuldig fühlen. Oft fehlen auch die nötigen Beweise, um den Schuldigen den Prozess zu machen. Es sei denn, da steckt noch etwas anderes hinter 'Ihrem Fall'. Möglicherweise beabsichtigt jemand aus der Szene, von Segeberg etwas in die Schuhe zu schieben.“
„Und weshalb hat Herr von Segeberg dann postwendend die Scheibe im Gartenhäuschen ersetzen lassen, anstatt die Polizei zu rufen?- Und wo befindet sich Georg Salomon?“
„Ich werde mich nächste Woche mit dem Münchener Revier in Schwabing in Verbindung setzen, Frau Volkmann“, sagte Herr Langmer. „Lassen Sie uns die paar Tage noch abwarten. Sollten Sie Neuigkeiten erfahren, die ihre Tochter betreffen, dann benachrichtigen Sie uns bitte umgehend.“
Ich musste mich damit zufrieden geben. Der Beamte hatte ja recht. Es war noch zu früh für konkrete Ergebnisse. Ich war erst vor wenigen Stunden aus München zu Hause eingetroffen.
Es vergingen zwei Wochen, ohne dass ich etwas über Sally oder Georg in Erfahrung bringen konnte. Pavel hatte das Wochenende bei uns verbracht, weil ich das Haus nicht verlassen wollte für den Fall, dass Sally in der Zwischenzeit heimkehrte. Ich hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sie irgendwann wieder vor unserer Tür stehen würde. Meine Mutter weinte neuerdings oft; es hatte für mich den Anschein, dass sie nicht mehr mit Sallys Rückkehr rechnete, was mich ziemlich deprimierte.
Meine Tage waren ausgefüllt mit der Suche nach einer geeigneten Arbeitsstelle.
Zu Fiona Friedländer zog mich nichts mehr. Seit unserem letzten Telefonat hatte ich von dieser Dame die Nase gestrichen voll. Selbst die überdurchschnittlich gute Bezahlung lockte mich nicht länger. Ich wollte mehr Zeit für meine Mutter und Sally haben. Sally würde irgendwann zu mir zurückkehren, und wenn ich eine Halbtagsstelle als Sekretärin fände, könnte ich an den Nachmittagen für sie da sein. Ich ging davon aus, dass Sally immer noch ihr Abitur machen wollte und hatte mir vorgenommen, sie für diesen Fall an einem Gymnasium in der nahe gelegenen Kreisstadt anzumelden, wo niemand ihre Vorgeschichte kannte.
Wir saßen beim Abendbrot, meine Mutter und ich, als es an der Haustür klingelte. Meine Mutter warf mir einen überraschten Blick zu, denn unsere Nachbarin Oda, die einzige, die uns häufig besuchte, hielt sich noch in Sardinien auf, wo sie ihren Urlaub verbrachte. - Wer mochte das sein?
„Sally“, flüsterte meine Mutter, stand auf und eilte zur Tür.
Ich war wie erstarrt und konnte mich vor lauter Aufregung sekundenlang nicht vom Fleck rühren.
„Nein, meine Tochter kennt sie mit Sicherheit nicht. Bitte gehen Sie wieder“, hörte ich meine Mutter im Flur sagen. Ihre Stimme klang sehr aufgeregt.
Ich raste um vier Ecken in den Korridor, stieß einen Freudenschrei aus und fiel Georg um den Hals.
Meine Mutter stand neben der Flurgarderobe und bekam ihren Mund nicht mehr zu.
„Wer ist das, Cordula?“, fragte sie aufgebracht. „Bitte erkläre mir, was dieses Theater soll; was hast du mit diesem 'Mannweib' zu schaffen?“
„Das ist Georg“, sagte ich. „Mein bester Freund. Er ist Transvestit und kein Mannweib. Ohne Georg wüssten wir eine Menge weniger über Sally, als uns momentan bekannt ist. Ich bin so froh, dass er noch am Leben ist.“
„Georg“, sagte meine Mutter verlegen. „Der, dem du zu verdanken hast, dass du aus diesem grässlichen Gartenhaus fliehen konntest?“
„Genau der“, sagte ich und verschwieg wohlweislich, dass ich ohne Georg vermutlich gar nicht erst in der Laube gelandet wäre.
„Bist du verletzt, mein Freund?“, erkundigte ich mich besorgt.
„Von Segebrechts Sohn hat auf mich geschossen. Die Kugel blieb im Oberarm stecken und wurde erst nach drei Tagen rausoperiert, weil ich vollkommen geschwächt war. Ich konnte dem Schmachthaken von Segeberg jr. gerade noch die Pistole aus der Hand schlagen und aus der geöffneten Tür flüchten – meine teuren Designer-High-Heels musste ich in dem öden Schuppen zurücklassen, hach!“
„Weshalb bist du nicht gleich zur Polizei gelaufen, Georg?“
„Weil ich unterwegs zusammengebrochen bin, Schätzchen. Außerdem hatte ich mich verlaufen, bin in die andere Richtung gerast, vor allem wegen dieses ätzenden Köters Hasso – und dann diese Leute, die mich schnöde abgewiesen haben, als ich ihr Auto anhalten wollte. Das Blut tropfte von meinem Arm auf die Straße. Die hatten wohl Angst, dass ich ihre Sitzbezüge ruiniere. Hach! - Das war zuviel für mich.“
„Hat denn jemand einen Krankenwagen gerufen, nachdem du zusammengebrochen bist?“
„Ja, Schätzchen, ich bin ins Klinikum rechts der Isar transportiert worden. Dort hat man mich dann später operiert.“
„Hast du irgendetwas von Sally gehört, Georg?“
„Deshalb bin hauptsächlich gekommen, Cordula. Ich habe während meines Krankenhausaufenthalts viele Telefonate geführt und eines war dermaßen aufschlußreich, dass ich mich schleunigst zu euch aufs Dorf begeben habe.
Ich wusste ja, wo du wohnst und glücklicherweise habe ich deinen Namen im Telefonbuch gefunden und somit deine Anschrift.“
„Aber wir wohnen doch keineswegs auf dem Dorf, Herr Georg“, wunderte sich meine Mutter.
„Na ja, gegen München ...“, sagte mein Freund.
„Dann kommen Sie doch herein. Wir sitzen gerade beim Abendbrot. Sie sind herzlich eingeladen.“
Meine Mutter nahm Georg den Leopardenfummel ab und dirigierte ihn durchs Wohnzimmer in die Essecke.
"Es ist nämlich so, Cordula, sagte Georg, nachdem er sich gestärkt hatte. Ich hab' vor zwei Monaten während der Probearbeiten für ein Musical einen süßen Schnuckel kennengelernt, der in seinen wilden Jahren in dieses Milieu abgerutscht war. Der kennt unter anderem auch diesen von Segeberg, war früher oft auf Gast auf dessen Parties und weiß hundertpro, was dort abläuft.“
„Was?“, fragten meine Mutter und ich wie aus einem Munde.
„Das verrate ich euch später, meine Süßen. Vorerst kann ich euch mitteilen, dass Roman, so heißt der hübsche Bengel, vermutlich eure Sally in München gesehen hat. Deine Tochter ist noch am Leben, Cordula. Ich befürchte jedoch, dass wir Sally durch unseren Auftritt bei von Segeberg in Gefahr gebracht haben und nicht allein sie …“
Fortsetzung folgt am 11. Januar 2017
Kommentare
Aus dem Leben voll geschrieben -
So ist es lesenswert geblieben!
(Selbst Krause verfolgt die Story fasziniert -
OHNE dass sie hundert Euro dafür kassiert ...)
LG Axel
Das freut mich sehr für dich, dann bist du noch nicht 'blank'.
Ich sage dir und Bertha Krause: tausend Dank.
LG Annelie