Gefährlicher Sommer (Teil 30; Text 1)

Bild von Annelie Kelch
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Erklär mir Liebe, was ich nicht erklären kann:
sollt ich die kurze schauerliche Zeit
nur mit Gedanken Umgang haben und allein
nichts Liebes kennen und nichts Liebes tun?
Muss einer denken, wird er nicht vermisst?

Du sagst: es zählt ein anderer Geist auf ihn …
Erklär mir nichts. Ich seh den Salamander
durch jedes Feuer gehen.
Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts.
(Ingeborg Bachmann; aus „Erklär mir, Liebe“)

Trauer, Entsetzen – und eine weitere Ferienwoche …?

Vor dem Fenster hielt mein letzter Ferientag Einzug, liebe Christine, und dies ist wohl auch mein letzter Brief aus Lachau an dich.
Ich hatte den Wecker auf kurz nach sieben gestellt und sprang, kaum, dass ich wach geworden war, aus dem Bett. Wenigstens heute wollte ich pünktlich zum Frühstück erscheinen, um Oma den Abschied von mir nicht zu leicht zu machen. Echt fies, nicht wahr? Aber die Stimmung war eh schon niedergeschlagen genug. Wir trauerten: um Knut, um Heiner und in gewisser Weise auch um Helge. Am meisten aber tat uns die Gnädigste leid. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Eine Welt war für sie zusammengebrochen: Ihr Melker hatte ihren treuen alten Gutsverwalter ermordet ... auf Befehl ihres Stiefsohns, der sich zu allem Unglück auch noch weiterer Vergehen schuldig gemacht hatte. Wir sahen einem gewaltigen Gerichtsprozess entgegen – mit Straftaten von A bis Z. Er würde nicht allein die Presse beschäftigen, sondern das ganze Land … Und er würde Aufsehen erregen und Unruhe mit sich bringen – eine Unruhe, die sich wie ein schleichendes Gift über Hof Lachau breiten würde. Zumindest ich würde vor Gericht erscheinen müssen … als Zeugin. Auf eine Strafanzeige gegen Helge wollte ich verzichten, aber ich wusste nicht, was die Staatsanwaltschaft zu unternehmen gedachte. Auf jeden Fall würde ich Hannes, seinen Vater, Kora und Konny und nicht zuletzt Hof Lachau schon bald nach unserer Abreise wiedersehen.

Hannes' Pfiff aus dem Garten scheuchte mich aus meinen Gedanken. Ich beschloss, auf vernünftigem Wege nach unten zu gelangen – nämlich über die Wendeltreppe, anstatt das Klettergerüst samt Efeu zu peinigen. Der kleine Flur lag im Dunkeln. In der Küche war es mucksmäuschenstill; aber ich wusste, dass Leni längst aufgestanden war. Sie klettert jeden Morgen um kurz nach sechs aus ihrem kleinen Bettchen, um das Frühstück herzurichten – für Kröger und jene Landarbeiter, die das Glück hatten, einen oder mehrere Tage gegen gute Bezahlung und freie Kost dem Gutshof ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen.

Auch das Herrenzimmer, das ich unverzüglich betrat, lag leer und verlassen in der Morgensonne, die durch die weiten Fenster der Veranda flutete, als wolle sie mit ihrer strahlenden Wärme alles wieder gutmachen, was Helge und Heiner auf Lachau angerichtet hatten. Ich lief durch die Veranda – auf dem runden Tisch lag bereits die Post deponiert, die der Briefträger gegen elf Uhr abholen sollte: ein dünner Stapel ... nicht vergleichbar mit jenen, die sich in früheren Tagen auf dem schönen Eichentisch türmten – als die Welt auf Lachau noch völlig in Ordnung war.

„Wann fahrt ihr, Katja?“, fragte Hannes mit dünner Stimme, als ich endlich vor ihm stand.
„Heute Abend, so gegen acht. Dein Vater bringt Mutter Kleve und mich zum Bahnhof.“

„Ich komme mit“, zeigte sich Hannes entschlossen.

„Hast Du Leni heute schon gesehen?“, fragte ich mit angespannter Miene.

„Nein, ich glaube, sie ist oben bei der Gnädigsten, hat ihr das Frühstück gebracht … Frau Brandner geht es nicht gut.“

„Kein Wunder“, sagte ich. „Hoffentlich ist sie uns nicht allzu böse, dass wir in dieses verteufelte Wespennest gestochen haben. Mir geht es deshalb auch nicht gerade hervorragend.“

„Blödsinn“, sagte Hannes. „Die Gnädigste ist uns dankbar, dass wir die Wilderei aufgedeckt haben. Das hat mir jedenfalls Papa Kröger gestern noch unbedingt erzählen müssen. Die Gute muss lediglich den Schock verdauen, den sie durch Heiners Aussage erlitten hat; sie muss hauptsächlich die Rolle verkraften, die Helge in dem Gangsterstück gespielt hat – als Auftraggeber zum Mord an Knut und als Anführer der Jagdfrevler.“

„Ein wahres Glück, dass Leni und dein Vater ihr zur Seite stehen, Hannes. Sonst würde es mir noch schwerer fallen, jetzt nach Hause zu fahren. In gut einer Woche fängt das neue Schuljahr an.“

„Erinnere mich bitte nicht daran, Katja“, stöhnte Hannes. „Du kommst doch nächstes Jahr wieder?“

„Klar doch. Und Christine wohl auch. Falls sie sich nicht vorher noch ein paar Knochen bricht. Aber den Kuhstall werde ich nächstes Jahr auf gar keinen Fall ausmisten, mit wem auch immer.“

„Auch nicht mit mir?“, grinste Hannes.
„Das kannst du dir erst recht aus dem Kopf schlagen“, ließ ich ihn wissen.

„Konnymaus freut sich schon auf euch – und mein Alter auch, hat er gestern jedenfalls verlauten lassen Er glaubt, die Ferien wären ganz anders verlaufen, wenn dieser Mordfall nicht dazwischengekommen wäre.“

„Mordfall?“, fragte ich entgeistert. „Du meinst wohl, den gemeinen Mord an Kn…“

„Katja, wo steckst Du denn schon wieder? Zeit fürs Frühstück!“, schrie Mutter Kleve durchs Herrenzimmer. „Oma wartet.“

„Bis gleich, Hannes“, flüsterte ich hastig. „Ich komme nach dem Rotwein-Zucker-Ei bei euch vorbei, möchte mich noch von Tante Selma verabschieden.“

„Wen wundert es, Katja, dass du am letzten Ferientag auch noch zu spät kommst“, grollte Oma und sah mich mit gespielt resigniertem Gesichtsausdruck an.

„Tschuldigung, Omi“, sagte ich, „aber Hannes stand vor der Veranda, als ich gerade in den Saal gehen wollte. Wir haben uns unterhalten – darüber, wie es der Gnädigsten jetzt wohl gehen mag, nach all dem Schlamassel.“

„Ja, unsere arme Frau Brandner. Als ob sie nicht schon genug im Leben ertragen musste. Der frühe Tod ihres Gatten. Und nun Helge – im Gefängnis, für Jahre vermutlich.“ Opa war voller Mitleid mit der Gnädigsten.

„Hoffentlich kommt Helge, dieses undankbare Geschöpf, dort überhaupt nicht mehr raus“, dröhnte Oma durchs Zimmer. „Friedliche Menschen erpressen und Mordbefehle erteilen“.

„Das geht heutzutage schneller, als du denkst, Mama“, gab Mutter Kleve überraschenderweise zum Besten, „bevor ihr unter der Erde liegt, ist Helge längst wieder draußen, wetten?!“

Opa grinste, aber Oma donnerte: „ Martha, das geht entschieden zu weit. Was ist bloß in dich gefahren! Weißt du denn nicht, was Knut für ein feiner Kerl war! Willst du uns jetzt schon begraben sehen?!“

„Immerhin hat er meine Tochter in den Ententeich gestoßen – wegen eines zugenähten Pyjamas. Du willst doch wohl nicht behaupten, dass das normal ist.“
„Aber deshalb braucht man ihn doch nicht gleich zu ermorden, Mutti“, sagte ich – überrascht und fast erschrocken, wie mutig sie sich Oma gegenüber zeigte. Mit einem Mal – und wie aus heiterem Himmel.

„Schluss jetzt, bitte, Martha und Anita. Bevor euer Gespräch zu einer Farce ausartet – auf Kosten des ermordeten Knut“, mischte Opa sich ein.

„Ich möchte mich noch von Tante Selma verabschieden“, begann ich vorsichtig, nachdem ich die Silberhochzeitstasse mit dem Zuckerei geleert hatte. „Darf ich?“

„Seit wann fragst du? Du tust doch eh, was du willst“, sagte Oma.

Ich stand vom Tisch auf, rückte den Stuhl zurecht, und verließ das Zimmer. Wenn Oma am letzten Tag noch Streit suchte, konnte sie ihn haben – aber ohne mich.

Hannes trabte mir auf dem Fußweg entgegen. Er winkte mir aufgeregt von Weitem zu.

„Katja“, rief er. „Ich habe eine super Neuigkeit für dich!“

„Lass mich raten? Helge hat ein umfassendes Geständnis abgelegt?!“

„Der!“, sagte Hannes. „Dazu ist der viel zu feige und zu blöd. Der wird alles leugnen und auf Heiner schieben.“

„Nein, Katja. Es handelt sich um etwas ganz anderes. Wir sind alle dafür, dass du noch eine Woche hierbleibst. Bei uns. In Tante Selmas Haus. Du musst dich doch von dieser Sauerei erholen. Deine Mutter kann ja schon nach Hause fahren. Vater Kröger bringt sie zum Bahnhof.“

„Und wie soll ich nach Hause kommen, Hannes? Mal ganz davon zu schweigen von dem Gift, das Oma umhersprühen wird, wenn sie mich nicht unter ihrer Fuchtel hat.“

„Mein Alter muss am kommenden Samstag nach Niebüll. Er will sich dort einen Trecker anschauen, kaum gebraucht und spottbillig. Unser ,Lanz Bulldog' macht es nicht mehr lange. Jedenfalls scheint er ganz scharf darauf zu sein, dich mitzunehmen und zu Hause abzusetzen, meint, das sei kein großer Umweg für ihn. Sag ja! Bitte!“

„Aber ich kann meine Mutter doch nicht mit den ganzen Koffern allein im Zug lassen …! Da passiert garantiert ein Unglück! Schon während der Hinfahrt sauste einer dieser Dinger vom Gepäcknetz auf den Schoß eines älteren Herrn. Das war ...“

„Dann nimmt sie eben nur das Wichtigste mit, jene Dinge, die sie zu Hause absolut entbehren kann. Und der andere Krempel kommt am Samstag nach. Mit dir. Wenn du genug bettelst, wird sie es gewiss erlauben.“

„Du fragst gar nicht, ob ich das auch will, Hannes. Außerdem bin ich kein Krempel, den man mit anderem Krempel transportiert. Und du weißt genau, dass mir im Auto immer schlecht wird, gerade bei dieser Hitze. Und stundenlang im Wagen mit deinem Vater alleine ...“

„Mensch, Katja! Nun mach ihm doch diese Freude! Er ist so begeistert von seiner Idee. Dermaßen aus dem Häuschen hab ich den Alten schon lange nicht mehr gesehen. Und Tante Selma hat jede Menge Reisetabletten.“

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, liebe Christine, war hin- und hergerissen. Anscheinend hatte Kröger einen Narren an mir gefressen. Aber weshalb? Ich habe ihm dafür nicht geringsten Grund geliefert. Eine Woche bei Tante Selma zu verbringen, mit Kora, Konny und Hannes, und ohne die Pflichten, die die Aufklärung ein Mordfalls mit sich bringen, erschien mir allerdings sehr verlockend.

„Ich möchte erst mit deiner Tante sprechen, Hannes, ob ihr das überhaupt recht ist“, sagte ich schließlich.

„Kannst du doch gleich, mein Alter ist auch da. Er hat bei uns gefrühstückt und will den Zaun zum Park abreißen.“

„Weshalb? Damit die Gänse, die ständig dort reinwollen, auf die Dorfstraße laufen und überfahren werden? Luchs ist alt und kann nicht mehr auf alle aufpassen.“

„Mensch, Katja, an die Gänse haben wir überhaupt nicht gedacht. Axel meinte nur, dass die Leute, die unbedingt in den Lachauer Gutspark wollen, in diesem hässlichen Drahtgestell kein Hindernis sähen. Er habe vor, es mal ohne einen Zaun zu probieren. Falls die Leute sich im Park benehmen und nicht sämtliche Blumen und Kräuter zertrampeln, könne man vor der linken Hausseite einen Stand aufbauen und Obst und Gemüse verkaufen. Das wäre eine zusätzliche Einkommensquelle.“

„Keine schlechte Idee“, stimmte ich zu. „Aber wer soll der Verkäufer sein? Ihr habt noch nicht einmal einen neuen Melker und Helges Arbeitskraft ist auch flötengegangen.“

„Falls Papa Krögers Idee Erfolg haben sollte, könnte man aus den umliegenden Dörfern ein paar Frauen anheuern, die sich etwas dazuverdienen möchten, stundenweise. Der Park, sagt er, sei so schön, seit wir uns die Beete vorgenommen haben, dass man darin zweifellos Erholung finden und sich an den vielen Blumen erfreuen könne. Aber nun lass uns bitte zu Tante Selma gehen. Ich möchte, dass du noch eine Woche hierbleibst. Wir müssen das unbedingt klären.“

Interne Verweise

Kommentare

06. Mär 2018

Der Leser bleibt gern in den Bildern -
Du kannst sie ausgezeichnet schildern!

LG Axel

06. Mär 2018

Dank, Axel, Dir, für Deinen Kommentar.
Er ist durchaus sehr nett und annehmbar.

LG Annelie

06. Mär 2018

Wieder: eine tolle Collage! Weiviel von dem, was Katja erlebt, stammt aus dem Erinnerungsschatz der jungen Annelie, das frage ich mich - neugierig, wie ich nun mal bin.

Liebe Grüße - Marie

06. Mär 2018

Danke, Marie, für Deinen Kommentar:
Leni!, ist schon mal wahr; die Gnädigste
ist wahr! Hof Lachau ist wahr, Luchs - ist wahr,
Gänse, Kühe, Schweine Pferde: wahr,
der Saal, die Küche, das Herrenzimmer; es gab
auch einen Hannes, Gutsverwalter auch,
den Teich - das Dorf, das Gutshaus, Oma, Opa,
Tante Agnes, Christine, der Ententeich: wahr,
mich und die Wendeltreppe und den Hof: gab 's.
Die Mordgeschichte gab 's nicht, Gott sei Dank,
und Kora und Konny sind auch erfunden, leider.
Onkel Hör-moln-beeten-to und die jüdische
Cousine meines Stiefopas mitsamt Haus und
wundervollem Garten im Dorf gab es aber auch!

LG Annelie