Fraenki

Bild von W.Haller
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So will er genannt werden, aber ich nenne ihn Frank, nur hier sage ich Fraenki. Wenn irgendwo zehn kräftige gesunde Männer rumstehen und mit grimmigen Gesichtern auf die allgemeine Lage schimpfen, kommt Fraenki vorbei, strahlt über das ganze Gesicht, mischt sich unter sie, und nach spätestens zwei Minuten lachen elf Personen, die zehn und Fraenki. Man muss dazu wissen, dass Fraenki ein kleiner Kerl von 42 Jahren ist, mit rotem Haar und dickem Rucksack, in dem sich sein Sauerstoffgerät befindet, von dem sich ein Schlauch über ein Gabelstück in beide Nasenlöcher verzweigt, und ohne diesen Rucksack würde er es vermutlich nicht bis zu dieser Stelle geschafft haben. Zu Hause stöpselt er den Schlauch an eine 10 Meter lange Nabelschnur, die an einem großen Versorgungsgerät hängt, damit kommt er an jede Stelle seiner Einraumwohnung. Fraenki hat seit seiner Kindheit eine Lungeninsuffizienz, deren Fortschreiten durch hohe Cortisongaben gebremst wird, aber das hat schlimme Folgen für seine Knochen und erzeugt einen Blähbauch, der ihm die Luft zusätzlich rar macht, er muss tagsüber stundenweise und nachts durchgehend eine Ausatemmaske tragen, und er hat noch manches andere Problem. „Wennch net soe fröhlichs Gmüt hätt, wär ich scho längst net mehr unter uns“, sagt er im mitunter bayerisch anmutenden „Arzgebergsch“ dieses angeblich zänkischen Gebirgsvolkes. Dass Fraenki zänkisch ist, glaube ich nicht, aber ich kenne ihn für eine solche Aussage auch nicht gut genug, und ganz nebenbei: es gibt tatsächlich zänkische Gebirgsvölker, aber das würde hier zu weit führen. Von seinen biologischen Eltern weiß er nichts, und seine Adoptiveltern sind schon über 85 und selber schwer krank.
Fraenki ist ein pfiffiger Kopf, ständig aufgedreht, voller Ideen, Sprüche und philosophischer Betrachtungen, man muss aber wissen, dass er bestimmte Eigenheiten hat, die sicher gut für ihn, aber weniger gut für andere sind. Wenn am Sonntagabend gegen 20.15 Uhr das Telefon klingelt, ist Fraenki dran und will „bissel quatschen“. Wenn man den Hörer abnimmt, sind die nächsten 2- 3
Stunden weg, aber dafür weiß man jetzt genau, was er in der letzten Woche gemacht und erlebt hat, was im TV und Radio gesendet wurde, was er eingekauft und gegessen hat, wie sein Stuhlgang war, Wetter, Preise und Kümmernisse bleiben nicht unerwähnt, und eine gute Stunde dauert die Kurzbeschrei-bung der eigenartigen Familienverhältnisse des Wartungstechnikers für das Sauerstoffgerät. Alle 10 Minuten fragt er mich, ob ich noch da bin, „du sagst ja nichts“, aber ich bin natürlich da, wenn auch ziemlich erschöpft. Und: man kann bei ihm gar nichts sagen, er hört es nicht und spricht ununterbrochen, ständig sprudeln neue Gedanken aus seinem Kopf, über alles. Wenn man ihm das schreibt, sagt er beim nächsten Telefonabend: ja, das ist meine Art, und dann folgt ein tiefenpsychologischer Exkurs über die Besonderheiten des Singledaseins unter besonderer Berücksichtigung einer Lungeninsuffizienz, das Verhalten der Lungenbläschen mit und ohne Cortison wird zum zehnten Mal erläutert, ein Lungenfacharzt könnte es nicht so perfekt. Aber wenn man denkt, nun ist es gut, kommt ein Schnitt mit Übergang zum Plumpudding, seiner Zubereitung, seinen Besonderheiten, seiner Geschichte... Mag er Plumpuddung? Nein, wieso?
Die meisten seiner Kunden haben sich Tricks angewöhnt, sie schauen z.B. aufs Telefon, erkennen seine Nummer und lassen ihn auf den AB sprechen, bis der voll ist. Oder sie lassen sich verleugnen, was jedoch bei Fraenki nicht so leicht funktioniert, er lässt sich nicht hinter die Fichte führen, er hat dafür einen Siebten Sinn entwickelt, stellt beim nächsten Telefonat, und das kommt mit hundertprozentiger Sicherheit, Kreuz- und Fangfragen, um seinen Partner beim Lügen zu erwischen, nein, er lässt sich nichts vormachen, Fraenki nicht.
Heute rief er wieder an, ich nehme den Hörer ab und denke, wer kann das sein, so spät und ohne Nummer, ein Neuzugang? Nein, es ist Fraenki, er sendet seine Nummer nicht mehr mit, das ist sein neuester Trick, er bekommt bei diesem schwülfeuchten Wetter kaum Luft, kann nachts nicht schlafen, fühlt sich einsam…und er tut mir leid. Nach genau 42 Minuten sagt er, dass er Schluss machen muss, das lange Sprechen strengt ihn zu sehr an, und er hat noch andere Gespräche zu führen, ich soll es nicht persönlich nehmen, und: er meldet sich bald wieder.

2013

Prosa in Kategorie: 
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