Spatzen-Schicksal

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Es gibt Tage, welche schon irgendwie schleppend beginnen – ohne größere Katastrophen zwar – aber doch so, dass man das Gefühl haben könnte, irgendwelche Schicksalsmächte seien einem augenblicklich nicht gerade besonders wohlwollend gesinnt und sie gefielen sich darin, ihrem Opfer, wenngleich auch nicht gerade Prügel, so doch zumindest ausreichend Reisig zwischen die Beine zu werfen.
Gestern war so ein Tag. Es waren eigentlich nur etliche Kleinreparaturen an verschiedenen Teilen der Haus- und Gartenbeleuchtung vorgesehen, welche in einer Zeitspanne von etwa zwei Stunden hätten erledigt sein müssen – normalerweise! Aber hier war eine Verschraubung eingerostet, da die Fassung eines Flutlichtstrahlers vollkommen oxidiert und verbrannt, dort ein eingebauter Trafo defekt und schließlich ein Gewinde in einer Kunststoffhalterung dermaßen zerbröselt, dass ich das ganze Teil aus Aluminium und Edelstahl auf meiner Drehbank so stabil anzufertigen gezwungen war, dass es die nächsten zweihundert Jahre (mindestens!) überleben wird. Letztere Tätigkeit hatte für sich alleine bereits zwei Stunden in Anspruch genommen!
Ich hätte dennoch einigermaßen zufrieden sein können, war es aber nicht, da mir die zeitliche Planung für meine weiteren Vorhaben völlig entglitten war. Für den Nachmittag hatte ich nämlich einer Bekannten, welche sich in ihrem Gnadenbrothofe in Sünching hingebungsvoll allen möglichen Groß- und Kleintieren widmet, einen Gefallen zu tun versprochen. Anschließend – auf dem Rückwege – hatte ich noch in Feldkirchen jemandem ein von mir besorgtes Ersatzteil abzuliefern …

Meine eigenen Vorhaben vernachlässigend, fuhr ich also müde und abgehetzt los, um wenigstens meinem „Außendienste“ gerecht werden zu können. Den wenigen Sonnenstrahlen, welche sich immer wieder ohne anhaltenden Erfolg durch die Wolkenschicht kämpften, um mich auf der eintönigen Fahrt zu begleiten, gelang es auch nicht, mich aufzuheitern – im Gegenteil! Ich stellte mir vor, sie lachten mich ob meiner griesgrämigen Mimik sogar aus. Da war mir die graufinstere Wolkenmasse schon sympathischer, erschien mir diese doch wie eine Projektion meiner Gedanken gegen das Himmelszelt, meiner Gedanken, welche sich mit dem Fehlverlaufe des heutigen Tages ebenso beschäftigten wie mit der Frage nach der generellen Sinnhaftigkeit meines Tuns, angestachelt eben durch die „Sisyphus-Flickschusterarbeiten“ vor meiner Abfahrt …

Auf dem Rückwege vom Gnadenbrothofe führte mich mein Weg durch den kleinen Ort Bergstorf. Gleich nach dem Ortsausgangsschilde fuhr ich - eines bis nahe an den Fahrbahnrand grenzenden Maisfeldes wegen - besonders vorsichtig. Ich hatte nämlich seit langem diese Felder fürchten gelernt, da sie regelmäßig Rehen und Hasen die Gelegenheit bieten, sich zu verstecken, um in letzter Sekunde in geradezu selbstmörderisch erscheinender Weise vor herannahenden Fahrzeugen über die Straßen zu rumpeln. Heute war es ein Schwarm Kamikaze-infizierter Sperlinge, welcher mich erschreckte, glücklicherweise aber heil davonkam.
Doch was lag dort, etwa zehn Meter vor mir, gut einen Fuß breit vom rechten Fahrbahnrande entfernt, auf dem Asphalt? Etwas Kleines, dunkelbraun oder grau, offensichtlich bereits totgefahren. Ich wich geschickt aus, gestand mir aber ein, dass dieses Ausweichmanöver ebenso unsinnig gewesen war, wie manch anderes an diesem Tage. Außerdem, so sagte ich mir, war dieses Etwas vielleicht nur ein Häufchen Dreck und falls nicht … ? Nun, etwas Totem kann man ja schließlich keinen Schaden mehr zufügen. Die Angelegenheit war für mich also erledigt.

Aber so, wie man einem alten Sprichworte gemäß „die Rechnung nicht ohne den Wirt machen“ sollte, so ist es auch nicht angeraten, den eigenen Gewissenswurm zu unterschätzen, welcher es sich in den Kopf gesetzt hatte, sich prompt Gehör zu verschaffen: „Wenn es sich aber um ein kleines Lebewesen handelt, welches vielleicht schwer verletzt ist, dann darfst Du doch nicht einfach weiterfahren.“ Ich wusste sofort, dass ich „verloren“ hatte, gegen diesen aufdringlichen Kerl schon! Er würde mir, mich beharrlich weiterhin nervend, im Nacken sitzen und mir die bescheidene Restfreude des Tages noch mehr vergällen, und obgleich ich jetzt auch noch das unangenehme Gefühl hatte, zwanghaft und gegen meine eigene Vernunft zu handeln, was mich ärgerte, wendete ich, um zu der vermuteten Unfallstelle zurückzufahren. Dort angekommen, hielt ich am äußersten rechten Fahrbahnrande an, wobei ich die Warnblinkanlage und meine innerhalb der Heckscheibe montierte Laufschrift „VORSICHT! TIER IN NOT!“ einschaltete.
Auf der anderen Straßenseite lag am Boden ein kleiner Spatz, ganz flach ausgebreitet, regungslos, mit geschlossenen Augen. Jetzt hatte ich die traurige Gewissheit und auch die, dass ich mir wirklich vergeblich Gedanken gemacht und weitere wertvolle Zeit verbummelt hatte. Ich beugte mich zu dem kleinen Kadaver hinab, um ihn wenigstens von der Straße zu entfernen und sagte: “Ach je, schade, jetzt bist du leider schon tot.“ Da schien es mir, als hätte sich ein Auge leicht geöffnet, um sich gleich darauf wieder zu schließen. Einbildung … nichts als ein frommer Wunsch … ein böser Streich meiner Phantasie! Aber nein! Da! Wieder dieses Auge! Ein fast unmerkliches Zittern ergreift den kleinen Körper. Der Spatz legt langsam die Flügel an, versucht aufzustehen, torkelt, fällt zurück auf den Bauch, beide Augen sind aber inzwischen offen, sie schauen mich irgendwie fragend an, scheinbar ohne Angst aber noch sichtlich verwirrt. Der Vogel ordnet seine Flügel zurecht, steht wieder auf – diesmal wesentlich sicherer – die dünnen Beinchen tragen ihn jetzt, es folgen ein paar Flügelschläge, zuerst unkoordiniert, dann gleichmäßiger, zielgerichteter … ich darf unmittelbar daran teilhaben, wie das Leben von dem kleinen Kerlchen wieder Besitz ergreift, stehe immer noch schützend über ihm, bereit, mögliche nahende Fahrzeuge anzuhalten … und jetzt ein Flattern, welches ganz unerwartet einen bravourösen Senkrechtstart einleitet … sprachlos, mit unendlicher Genugtuung, darf ich Zeuge werden, wie der Sperling über das Maisfeld hinwegfliegt …

Gewiss, es ist für das Weltgeschehen völlig unwesentlich, ob der kleine Spatz überlebt hätte oder nicht, aber für ihn - und für mich - ist dies von großer Bedeutung. Er bekam sein junges Leben neu geschenkt und ich den Rest dieses bisher doch recht unbefriedigenden Tages, den ich jetzt dankbar genießen durfte. Tief in mir sagte ich „DANKE“ in keine bestimmte Richtung oder in alle Richtungen zugleich und wenn ich dieses Erlebnis von gestern nun nicht niedergeschrieben hätte … ? Dann hätten nur zwei davon etwas gewusst: der kleine Spatz und ich – es wäre für immer UNSER großes Geheimnis geblieben!

erlebt am 6.August 2016, niedergeschrieben am darauffolgenden Tage

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