Schuhe fürs Leben

Bild von Lena Kelm
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Was kann eine Frau glücklicher machen, als ein paar neue Schuhe?
Nur noch ein weiteres Paar, das, von dem sie lange geträumt hat.
Vielleicht ist diejenige Frau am glücklichsten, die es gar geschenkt
bekommt?
Evelin erwarb die Traumschuhe für ihr ehrlich verdientes Geld. Sie
kannte es nicht anders, ihr machte niemand große Geschenke.
Im Ohr hatte sie Vaters Lebensweisheit: „Der Schenker ist gestorben,
der Geber hat sich das Genick gebrochen. Sorg für dich selbst, Mädel,
dann bist du keinem etwas schuldig.“ Sie blieb bodenständig, nie lebte
sie über ihre Verhältnisse. Aber dieses Paar Schuhe zum luxuriösen
Preis von achtzig DDR-Mark wollte sie sich erlauben. Ein Geschenk
zum Geburtstag sollte es werden.

Sie nahm sich einen freien Tag für den Einkauf und fuhr ins
Centrum-Warenhaus am Alexanderplatz. Die Schuhe gab es zum
Glück noch! Nachdem sie mit den Schuhen zum zigsten Mal
geliebäugelt hatte, durch andere Abteilungen geschlendert war,
um für die Entscheidung einen klaren Kopf zu bekommen, kehrte sie
zu den auserwählten Traumschuhen zurück. Da standen sie, schlichte
schwarze Halbschuhe ohne Schnörkel, genau diese wünschte sie sich.
Sie zog den rechten Schuh an. Die Verkäuferin meinte: „Ziehen Sie
ruhig beide an und laufen Sie ein paarmal hin und her.“
Das tat sie und war froh, als die Verkäuferin sich wieder einer
anderen Kundin widmete. Sie hatte das Gefühl, zu fliegen. Das
butterweiche Leder umhüllte sanft ihre Füße. Sie spürte nicht mehr
das Hühnerauge am kleinen Zeh, und die Druckstelle am Ballen
gab es einfach nicht mehr. Davon träumte sie schon lange, dafür
waren ihr die achtzig Mark nicht zu schade. Das bin ich mir wert,
sagte sie sich mit der Stimme einer Werbefachfrau. Am liebsten
hätte sie die Schuhe nicht mehr ausgezogen, aber ihre Vernunft
überwog. Auf dem Heimweg summte sie leise die Melodie eines
bekannten Schlagers, das heißt, die wenigen Zeilen, die sie kannte.

Zu Hause zog Evelin die Wunderschuhe an und probierte ein paar
Tanzschritte vor dem Spiegel des Kleiderschranks. Sie ertappte sich
bei dem Wunsch, mit den Schuhen ins Bett zu gehen, so wie sie es in
der Kindheit mit jedem neuen Kleidungsstück getan hatte, ob Mantel,
Mütze oder Stiefel, sie ließ sie sich nicht vom Leibe reißen. Überglücklich
schlief sie im neuen Kleidungsstück ein, die Eltern befreiten die
schlafende Tochter davon, doch daran erinnert sie sich nicht. Kinderlaunen,
ein Alter, wo man mit Teddys und neuen Schuhen ins Bett ging.
Heute war Evelin glücklich wie ein Kind. Das Glücksgefühl hielt auch
die nächsten Tage an.

Die Arbeitskolleginnen freuten sich mit ihr, vielleicht neideten ihr
einige die teuren Schuhe, doch ließen sie es sich nicht anmerken.
Evelin tänzelte auch am dritten Tag beschwingt in neuen Schuhen zum
Betrieb. Ebenso leicht fiel ihr der Weg nach Feierabend zur Haltestelle.
Beim Einsteigen in die Straßenbahn hatte sie kurz das Gefühl zu stolpern,
doch dann setzte sie sich auf den freien Fensterplatz und plauderte
vergnügt mit einer Kollegin bis zu ihrer Station. Beim Aussteigen
störte sie etwas am rechten Fuß. Dann sah sie es. Oh, Schreck!
Die Sohle des Wunderschuhs hatte sich an einer Seite gelöst.
Fassungslos betrachtete sie den linken Schuh, der zeigte an den
Seitennähten stellenweise säuberlich getrennte Sohlen. Evelin war
einem Weinkrampf nahe. Wie sie es nach Hause schaffte, daran
konnte sie sich kaum erinnern. Sie zog ihre alten Schuhe an und fuhr
zum Alexanderplatz. Zehn Minuten vor Geschäftsschluss betrat sie das
Warenhaus.

„Guten Abend!“, sagte sie gereizt, nach mehr Höflichkeitsfloskeln war
ihr nicht zumute. „Ich will nicht lange Drumherum reden, diese
Schuhe habe ich vor genau drei Tagen bei Ihnen gekauft. Ich möchte
die gleichen haben!“
„Leider haben wir keine mehr. Das sind Westschuhe“, erklärte die
Verkäuferin.
„Und was nun? Ich will aber diese Schuhe!“, sagte Evelin mit Nachdruck.
„Ich kann da nichts tun“, sagte die Verkäuferin.
„Dann rufen Sie den Verkaufsstellenleiter!“, verlangte Evelin.
Ein Herr im pikfeinen Anzug und Krawatte, auch Westware – ging es ihr
durch den Kopf – erschien.
„Schneider, mein Name, Verkaufsstellenleiter! Worum geht es,
junge Frau?“
Evelin ging sofort in die Offensive. „Erzählen Sie mir nicht, dass
nichts zu machen ist. Ich habe ein Schweinegeld bezahlt und
möchte diese Schuhe haben.“
Der Verkaufsstellenleiter erfasste sofort die Situation, um die
Eskalation kurz vor Feierabend zu vermeiden, versuchte er sie
zu beruhigen.
„Schreiben Sie den Hersteller an, er soll Ihnen die Schuhe erstatten.
Wir verkaufen sie nur.“
„Wie, ich soll an eine Westfirma schreiben? Machen Sie sich lustig
über mich einfache Frau?“
„Keineswegs, es sind Ihre Schuhe. Sie haben sie gekauft und getragen
und nun wollen Sie neue.“
Evelin war zwar mit der Argumentation nicht einverstanden, überlegte
aber kurz die Vorteile. Wenn sie schreibt, ist es sicherer, dass der
Brief schnellstens und überhaupt abgeschickt wird.
„Geben Sie mir die Adresse! Sollte es nicht klappen, komme ich wieder
zu Ihnen.“, drohte sie ihm.
Mit der Adresse verließ Evelin über den Hinterhof das leere Kaufhaus.
Noch am selben Abend setzte sie das Schreiben auf.

Werte Damen und Herren,
am vierten August habe ich Schuhe Ihrer Firma erworben.
Leider lösten sich die Sohlen nach nur drei Tagen. Ich bitte
Sie, mir diese durch ein neues Paar zu ersetzen. Sie sind
sehr bequem, ich war ansonsten sehr zufrieden mit Ihren
Schuhen.

Hochachtungsvoll,
Evelin Schmidt

Von Zweifeln geplagt, steckte sie den Brief noch vor der Arbeit in
den Briefkasten. Die Antwort kam überraschend schnell.

Sehr geehrte Frau Schmidt,
bedauerlicherweise teilen wir Ihnen mit, dass diese Schuhe
aus unserer Bestattungskollektion sind. Sollten Sie einverstanden
sein, schicken wir Ihnen ein geeignetes Paar Straßenschuhe.
Anbei bekommen Sie die Abbildung der Schuhe.
Wir stehen Ihnen weiterhin gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen,
Geschäftsführer SoundSo

Evelin traute ihren Augen nicht, immer wieder las sie die Zeilen.
Sie weigerte sich, diese Absurdität anzuerkennen. Ein Witz! – sagte
sie laut. Aber es war die Wahrheit. Seltsamerweise fiel ihr der Anzug
des Verkaufsstellenleiters ein. Ob er etwa einen Sarganzug trägt?
Ich werde ihn fragen, beschloss sie. Und jeder und alle sollen von
dieser Geschichte erfahren, wie unser Staat seine quicklebendige
Arbeiterklasse mit Bestattungskleidung versorgt!
Evelin überkam ein Lachanfall.

Veröffentlicht / Quelle: 
Im Prinzip gibt es alles - Erzählungen

Interne Verweise

Kommentare

10. Feb 2018

Zum Laufen nicht gemacht waren diese schöne Schuhe;
man bettet darin jene, die der Tod gezwungen hat - zur ew'gen Ruhe.

Danke, für die sehr gut erzählte Geschichte, liebe Lena.

Liebe Grüße,
Annelie

15. Feb 2018

Liebe Annelie,
ich bewundere Dein Gedicht, das meine ganze Geschichte beinhaltet. Hat mir wirklich sehr gefallen.

Lieben Gruß,
Lena