Irreale Betrachtung XXL

Bild zeigt Alf Glocker
von Alf Glocker

„Guten Morgen und auch gleich gute Nacht! Ist dort die Polizei? Mich hat gerade eine riesige Schlange – oder war‘s eine Spinne? – gebissen … sie tut das gerade noch einmal und noch einmal. Also holen Sie bitte meine Leiche in der Landesstraße Y ab. Mehr werden Sie von mir wohl nicht mehr vorfinden!“

Meine Stimme klingt verschwommen. Ich habe Mühe, die Buchstaben zu artikulieren. Das Gift wirkt schon ganz deutlich. Was geht vor? Ich habe eine Ahnung, aber immer, wenn ich darüber nachdenken will, bekomme ich einen Schlag auf den Hinterkopf. Ist da noch wer im Zimmer?

Bei genauem Hinsehen (was eigentlich gar nicht geht) erkenne ich den Lieben Gott – er sieht aus wie ein
Tyranno-Saurus Rex, oder soll das ein Walfisch auf dem Trockenen sein? Es hat Hörner, glaube ich ...
also ist es ein Mördergen?! Was oder wer belästigt mich?

„Ich bin das Leben – auch nach dem Sein!“ sagt eine Stimme. Sie ist so schrill, daß im Hausflur ein Spiegel zerbricht. Oder hat da jemand geschossen? Jetzt weiß ich’s: Ich bin erschossen worden! Der Liebe Gott hat mich erschossen, aber er sieht wie ein Ungeheuer aus …

Es hat einen schwarzen 5einhalb-Tage-Bart, glühende, dunkle Augen und ein seltsames Buch in der Hand. „Nein, danke“, rufe ich ihm zu – ich will es nicht noch einmal lesen. Es hat mir schon beim 1. Mal gereicht. Ich bin klug genug, um zu sterben!

Ein Haustier?“, höre ich. Ja, kann sein – ich habe das Unheil als Haustier gehalten. Ich dachte es holt mir die Ratten weg. Oder war es doch ganz anders? Zwang mich irgendwer, das Untier in mein Domizil zu locken? Das kann nur ein Arschloch gewesen sein!

Jetzt erlebe ich, was eine Agonie ist – auch diese Bildungslücke hätte ich somit geschlossen … Ich könnte die nächsten Tage überall mitreden … wenn es mich da noch geben würde … aber die Verantwortung dafür hat ja der Liebe Gott übernommen.

Hat er die nicht schon immer gehabt? Ich dachte, ich sei das gewesen … wie man sich doch täuschen kann … Anscheinend hat die Agonie etwas Bewusstseinserweiterndes, etwas Klares, Unwiderlegbares. Wie süß doch der Tod ist …

Zum Glück beißt, sticht, oder schlägt – keine Ahnung – das Biest in meinem Haus noch einmal zu und noch einmal … ist ja schon gut, ist ja schon guuut. Ich habe es begriffen: Irren ist menschlich, auch wenn viele Menschen unmenschliche Irre sind.

Ha, zu was für Gedankensprüngen ich doch fähig bin. In den letzten Sekunden meines irdischen Daseins schwinge ich mich zu faszinierenden Höhenflügen auf. Die hätte ich nicht mal im größten Hirnwäsche-Rausch zustande gebracht.

„Jawohl, Herr Polizeirat, ich habe viele Erfahrungen gemacht! Alle waren sie ausnahmslos einzigartig. Mir fehlt nur noch die letzte, die allerdings gar keine ist, weil ich davon nicht mehr erzählen kann. Nein, darüber nachdenken kann ich auch nicht …“

Mit wem spreche ich da eigentlich? Die Verbindung ist doch längst unterbrochen … Außer, daß da jemand an mir frisst und Teile von mir wohl auch schon verdaut, ist doch niemand bei mir. Nicht einmal ich bin mehr ganz bei mir. Ich telefoniere mit dem Tod.

Gleich wird er kommen und mich erretten. Er wird mich ohne Sirene, mit Schwarzlicht, in eine Gegend fahren, in der ich noch nie war, weil ich da auch noch nie hin wollte. Was werde ich dann bezahlen müssen – oder wen? Den Fährmann??

Geld habe ich keines dabei, das liegt in der Schublade, im Schlaffzimmer, wo ich sonst die überflüssigen Kondome aufbewahre, weil ich ohnehin niemanden schwängern kann mit meinem harmlosen Geist. Es ist eine Schande, so abtreten zu müssen …

Dann eigne ich mich eben als Abtreter, denke ich noch kurz an, bevor ein Zustand über mich kommt, der keiner ist, der nirgendwo stattfindet, den man über sich ergehen lassen muss, weil man keine Wahl hat. In dieser Hinsicht ähnelt er stark dem Leben:

Man hat keine Wahl! Nur die eine: Man kann sich was einreden. Also dann: Es ist niemand im Zimmer, niemand hat mich gebissen, ich werde als niemand nicht sterben, noch leben, noch jemals gelebt haben oder gestorben sein. Fffffffff…

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