Hock bei der Startrampe B - Der Stuhlkreis

Bild von Klaus Mattes
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Am Anfang war ein Stuhlkreis.

Der Stuhlkreis war vor dem ersten Teilnehmer hier.

Die Sonne hob sich, die Nacht, noch nicht jedoch der Winter, war vorbei. Es wurde acht Uhr. Heute beginnt bei der Startrampe in Reuenthal eine Maßnahme für langzeitarbeitslose Schwerbehinderte, Grad der Behinderung mindestens 60. Vorn an der Rezeption plaudern zwei Frauen, denen man die Rezeption bei keiner Firma, in keinem Hotel überlassen würde, sind vom Jobcenter geschickte „Arbeitsgelegenheiten“, also ebenfalls Langzeitarbeitslose auf Hartz, jetzt aber mit 30-Stunden-Woche und Zuverdienst, vorerst auf ein halbes Jahr begrenzt. Sie schenken uns ein hinreißendes Lächeln, weisen zur Ecke und hin auf den langen Gang, der sich ins alte Fabrikgebäude zieht. Dort die offenstehende Milchglastüre. Und drinnen kein Lehrer, keine Teilnehmer, keine Tische. Aber der Stuhlkreis.

Okay, die Tische sind schon noch drin, fallen nur nicht auf, weil man sie bis zur Wand geschoben hat. Dann ein gewisser Freiraum, dann der Kreis aus Stühlen. Auf jedem Stuhl liegt heute ein großer, dicker Ordner voller Teilnehmerunterlagen. Woran sich die Entdeckung schließen kann, dass es keine Klapparme an den Stühlen hat, die eine Unterlage fürs Schreiben oder zum Ablegen so schwerer Aktenordner böten.

Die Kleidung kann man an der Wand aufhängen. Die Taschen kann man auf die weggeschobenen Tische stellen. Die für manche Menschen während Unterrichtsblöcken von anderthalb Stunden lebenswichtigen Softdrink-Flaschen, 1,5 Liter, wer hat, der hat meistenteils Markenprodukte wie das echte Coca Cola, keine Ahnung, von was sie das kaufen, aber Hartz’ler sind erfinderisch, also während unseren langen, trockenen Zeitdurchquerungen diese lebensrettenden Schlückchenspender, sie stellt man sogleich auf den Boden neben den Stühlen im Kreis. Inzwischen sind Teilnehmer erschienen und auch eine Kursdozentin. Man nimmt gemeinsam die Verträge aus dem Ordner, setzt seine jeweilige Unterschrift drunter. Sie werden eingesammelt. Man gehört jetzt hierher.

Man ist ein wenig einsam im Leben. Wenn man langzeitarbeitsloser Behinderter auf Hartz IV ist, dann gibt’s so was schon. Man kann sich nicht unbedingt seinen kleinen Urlaub, Städtetrip, die Mitgliedschaft im Golfclub oder die Premium-Mitgliedschaft in einer Internetpartnerbörse noch leisten. Gut ist dann, wenn man eine richtige Familie hat, denn Blut ist dicker als Wasser. Sie haben daheim wahrscheinlich auch Ihren Stuhlkreis, wenn Sie sich familiär nahe sein möchten, sprechen, sich vertrauensvoll in die Augen schauen? Na, zu Hause wohl doch nicht, weil die Küche halt zu klein ist. Aber in Ihrem Verein kennen Sie solche Stuhlkreise natürlich gut. Oder bei Ihrer Partei, der sie angehören. Oder in der Kirche, wenn Sie Ihre Gemeinde mal wieder besuchen. Oder doch wohl auch, wenn Sie im offenen Vollzug sind und an den Wochen-Feedback-Terminen teilnehmen. Ja, sehen Sie, jetzt fällt es Ihnen ein.

Die Leiterin, Alter angesichts ihrer äußeren Erscheinung eher irrelevant, aber schreiben wir mal: Mitte bis Ende vierzig, sie trägt den Namen Frau Henkenhaf.

Frau Henkenhaf, kaum sind die Verträge unterschrieben und abgeholt, fürs Büro, schaut der Reihe nach einen nach dem anderen fragend und hartnäckig abwartend an. Wir wissen noch nicht, dass sie das von jetzt ab jeden Morgen genauso wieder tun wird.

„Haben Sie heute was auf dem Herzen? Was darf ich tun für Sie?“, fragt sie mit schwer zugänglicher Fröhlichkeit und sehr laut.
„Ich will raus aus dem doofen Kreis! Ich brauche einen gescheiten Tisch, der nur meiner ist, zum Hintersitzen, Aufschreiben und allmählichen Unterrutschen im Verlauf der Stunden!“

Schreit das wutschnaubend denn wohl einer? Nicht in so einer Geschichte, ich muss Ihre Gier nach Unterhaltung gleich hier schon mal etwas dämpfen.

Anpassung war es aber doch auch, was uns als Menschheit unsterblich gemacht hat in so einer lebensfeindlichen Welt. Die Helden sind alle erschossen worden oder verhungert. Wir Angepassten sind noch hier.