Was ist eigentlich Marxismus-Leninismus? Das ist eine Interpretationsfrage! Das kommt darauf an, wo man lebt. Mir ist ein Land bekannt – das Fantasieland –, in dem ich mit meiner Mutter in himmlischer Eintracht lebte. Ich war ein kleines, staunendes Kind und ich war überwältigt von den mich umgebenden Wundern der Kultur und Natur.
Auf beides, Natur und Kultur in einer Person, die ich damals gut kannte, trifft die Bezeichnung „Wunder“ enorm zu. Es war die Freundin meiner Mutter – sie hieß Leni! Leni war ungeheuer wohlhabend, ungeheuer naiv und ungeheuer dick! Sie liebte mich ungeheuerlich und sie hatte für mich auch immer ein paar Mark (damaliges Zahlungsmittel) übrig.
Ich hätte damals den Begriff „Marksismus-Leni-Nismus“ völlig frei, aus eigenen Erfahrungen erfinden können, denn mir war das eigenartige Verhältnis zu dieser ungeheuren Frau zur Lebensanschauung geworden. Sie war die Stütze meiner Kindertage, zumindest finanziell, weil ich von meinen Eltern keinerlei Taschengeld bekam.
Immer musste ich warten bis Leni wieder einen ihrer spendablen Ausflüge plante, auf denen es Geld und Essen regnete. Das war der angewandte Marksismus-Leni-Nismus – und wenn heute einer kommt und mir erzählen will, es gäbe noch einen anderen, dann blicke ich ihn immer skeptisch an.
Ebenso wie ich mir nicht vorstellen kann, daß es noch einen anderen Marksismus, als den von Leni geben kann, kann ich mir gut vorstellen, daß es irgendwo auf der weiten Welt ein Land gibt, in dem sämtliche Mütter eine Freundin haben, die Leni heißt und ungeheuer dich, naiv und wohlhabend ist. Gutmütig und liebevoll habe ich noch vergessen…
In diesem Land des lebendigen Leninismus sind alle Menschen hochzufrieden, weil für jeden stets ein paar Mark zur Verfügung stehen, auch wenn viele kein eigenes Taschengeld haben. Wenn ich Leuten aus diesem Land dann erzählen würde, wie unsere Bräuche funktionieren, dann würden sie mich vermutlich nur bulläugig anstarren.
Noch schlimmer würde es vermutlich sein, wenn ich in dieses Land hinreiste und den Bewohnern dort erzählte, es gebe ein Land ohne Lenis und Marks, dann würde ich höchstwahrscheinlich nur Unverständnis ernten. Niemals würden sie das wahrhaben wollen!
Nachdem ich mir das vor Augen geführt habe, weiß ich plötzlich, warum Mentalitäten, die ja samt und sonders aus Jahrhunderte langen, was sag ich, aus Jahrtausende währenden Gewohnheiten entstanden sind, sich auch wieder nur in Jahrtausenden ändern würden, wenn man wenigstens die Lust dazu hätte.