Die Tür war verschlossen. Adam klingelte einige Male, bis sie geöffnet wurde. Ein Mädchen erschien in der Tür. Sie war kaum älter als zwanzig; ihre Augen jedoch spiegelten Jahrzehnte wider. Das Baumwollhemd war ihr ein wenig zu groß und waberte über die Jeans. Adam störte es nicht, sie auch nicht. Ihre matten Knopfaugen musterten den Besucher ohne Neugier.
„Zu Krystof Blasinski“, sagte er.
Das Mädchen verzog das Gesicht, entgegnete aber nichts. Sie trat beiseite und ließ Adam eintreten. Hinter der Tür erstreckte sich ein Korridor, dessen Deckenbeleuchtung teilweise ausgefallen war und der wie der enge Schlauch eines dämmrigen U-Bahn-Schachts aussah.
„Geradeaus“, sagte das Mädchen.
Adam wartete. Er hielt seinen Rucksack fest in der Hand. Das Mädchen schloss die Tür, begleitete den Besucher jedoch nicht.
„Na, geh schon“, sagte sie und wies mit dem Finger ihrer Hand durch den Korridor.
Adam ging den Flur entlang, bis er schließlich vor einer Tür stand. Sie war geschlossen. Auf dem dünnen Holz klebte ein Plastikstreifen mit der Aufschrift „Biuro“. Adam wandte sich um; das Mädchen an der Eingangstür war verschwunden. An der Decke flackerte das Licht. Adams Klopfen hörte sich dumpf an, als absorbiere das Dämmerlicht Geräusche.
„Ist offen“, kam es von drinnen und der Besucher trat ein.
Das Zimmer war ein besserer Lagerraum. Es war klein und quadratisch und besaß kein Fenster. Eine elektrische Heizung arbeitete seitlich der Tür. Sie war auf die höchste Stufe aufgedreht, dass die Luft stickig wie in einer Sauna war. Ein paar Werbeplakate hingen an der Wand. Auftritte von Bands, Vorankündigungen für Veranstaltungen. Die Kanten waren zerknittert und die Plakate älter, als Adam es sich vorgestellt hatte. Sie passten zu dem Mann, der ihm gegenüber am Schreibtisch in Papieren blätterte.
Sein Haupthaar hatte sich weit zurückgezogen, dass der Schädel hervortrat. An den Seiten aber hingen sie ihm lang über die Ohren, dass sie sein eingefallenes Gesicht wie ein Wachsstore umkränzten. Seine Brille hatte er bis zur Nasenspitze heruntergeschoben. Womöglich benötigte er sie gar nicht. Er beugte sich über die Blätter und sah nicht auf, als der Besucher eintrat.
Adam blieb vor dem Schreibtisch stehen. Der Mann ignorierte ihn weiterhin.
„Ich sollte mich hier vorstellen“, sagte Adam.
„Ja?“, entgegnete der andere. Er beschäftigte sich weiterhin mit seinen Unterlagen. Sein Unterkiefer mahlte, dass die grauen Bartstoppeln sich wie Schilfgras bewegten.
„Robert hatte mich empfohlen.“
„Robert?“
„Zylonka.“
Der andere schnaufte. Adam stellte seinen Rucksack ab. Die Lampen in diesem Raum waren in Ordnung. Trotzdem war es fast so dunkel wie im Korridor. Blasinski mochte Dämmerlicht, so wie jeder etwas anderes. Adam sah sich nach einem Stuhl um. In der Ecke entdeckte er einen, mit Ordnern übersät. Adam blieb stehen. Nach einer Weile schob der Mann die Papiere beiseite und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Die Lehne reichte ihm kaum bis an die Schulter, aber Blasinski war schmächtig genug, dass es nicht sonderlich auffiel. Er kniff die Augen zusammen. Über die Brille hinweg musterte er Adam.
„Was kannst du?“, fragte er.
„Singen“, sagte Adam.
Blasinski lachte. Vielleicht war es so herzhaft, wie er es vermochte; in Adams Ohren klang es unangenehm. Blasinski stemmte sich aus dem Sessel hervor und schlug mit der Hand auf den Tisch.
„Das ist ein Witz!“
„Robert meinte, ich sollte hierherkommen.“
Blasinski schien seinen Anfall an Heiterkeit überwunden zu haben. Die Haarsträhnen fielen ihm über die Wangen. Er setzte die Brille ab und warf sie achtlos auf die Papiere.
„Ich will gar nichts wissen. Geh lieber zurück, von wo du hergekommen bist. Ich habe keinen Job für dich“, sagte er.
„Sie haben mich noch gar nicht singen gehört.“
„Einer wie der andere.“
„Robert sagte, sie geben unbekannten Sängern eine Chance.“
„Ich weiß nicht einmal, wer dieser Robert ist.“
„Robert Zylonka.“
„Du langweilst mich, Junge.“
Blasinski fixierte den Besucher, schien sich dann jedoch eines Besseren zu besinnen. Er lehnte sich zurück, faltete die Hände und verzog sein Gesicht zu etwas, was einem Lächeln ähnelte.
„Hast du eine Ahnung, wie viele zu mir kommen, weil sie meinen, singen zu können? Dein Freund hat dich verarscht. Ich brauche keine Sänger, ich will keine Sänger! Falls überhaupt eine Sängerin, die nach etwas aussieht. Wenn du verstehst, was ich meine.“
Adam verstand, obwohl er aus Mystki kam.
„Fahr nach Hause, Junge“, sagte Blasinski. Damit wendete er sich wieder den Papieren zu, auf der Suche nach Sängerinnen, die nach etwas aussahen, falls wir verstehen, was er meinte.
Da stand er nun. Adam Hula, mit einem Rucksack auf dem Rücken. Auf der Libelta, inmitten der Poznaner Altstadt. Es war Herbst. Die Blätter fielen von den Bäumen, ein unangenehmer Wind zog durch die Straßen. Er dachte an seine Stammkneipe in Mystki, in der Robert Zylonka sicherlich in diesem Augenblick den anderen erzählte, dass Adam aufgebrochen war, um Karriere zu machen. Vielleicht erwähnte er auch, dass er seinen Freund Hula auf die Idee gebracht hatte.
Adam sah die Straße entlang. Die Passanten beachteten ihn nicht. Sie zogen an ihm vorüber und der junge Mann überlegte, ob es nicht das Beste sei, nach Mystki zurückzukehren, in Gassen, die er kannte. Warum eigentlich nicht? Zylonka hatte ihn zum Narren gehalten. So etwas passierte schon einmal. Träume zerbrachen, Freunde lachten.
In seinen Gedanken verloren, durchquerte Adam die Altstadt. Er kam am Rathaus vorbei, hinüber zur Universität. Die Straße immer weiter entlang, bis er zur Warthe gelangte. Nun begann es auch noch zu regnen. Am Rand der steinernen Brücke stand eine Kneipe. Ein wenig zurückversetzt, kaum groß genug, um ein Ort zum Aufwärmen zu sein, oder um dort die Zeit totzuschlagen. Beides konnte Adam gebrauchen.
Der Schankraum bot nur ein paar Tischen Platz. Sie wirkten wie willkürlich abgestellt, aber von denen am Fenster sah man zur Warthe hinunter. Hinter dem Tresen stand eine Frau. Sie trocknete Gläser ab. Die Arbeit schien sie vollständig in Anspruch zu nehmen. Als der Gast eintrat, sah sie kaum auf und erinnerte mit diesem Verhalten an Blasinski, obwohl sie keine Brille trug.
Adam setzte sich an einen der Tische und bestellte ein Bier. Die Wirtin schien das nicht zu beeindrucken. Sie nickte und begann zu zapfen. Wenigstens etwas funktionierte hier wie in Mystki. Lustlos, als hätte sie die Bestellung unterfordert, stellte sie Adam das Glas hin, zog sich dann hinter den Tresen zurück, schaltete das Radio ein und sortierte die Flaschen in den Regalen. Adam beschäftigte sich nicht mit ihr. Das Bier war kalt, wie alles in Poznan.
Unten auf der Warthe zog ein Boot mit vier Ruderern über die Wellen. Immer, wenn sie die Ruder ins Wasser stießen, kräftig durchschwangen, schob das Boot schneller an und verlangsamte augenblicklich die Fahrt, sobald die Ruderblätter aus dem Fluss auftauchten. Die Männer gaben trotzdem nicht auf. Sie kamen vorwärts, irgendwie. Darum ging es doch. Nur manchmal wusste man nicht, was man machen sollte. Aber das verging, wie alles andere.
Die Tür der Kneipe öffnete sich. Adam ließ sich davon nicht ablenken, starrte weiterhin aus dem Fenster. Dieses Mal reagierte die Frau hinter der Theke. Sie wandte sich um.
„Wie immer“, sagte der Mann.
Er ging davon aus, dass die Wirtin ihn kannte. Das tat sie auch.
„Heute ziemlich früh“, bemerkte sie.
„Am Nachmittag sind Proben“, entgegnete der Mann.
„Hoffentlich klappt alles.“
„Das ist nicht meine Sache.“
Die Wirtin schob ihm ein Bierglas über die Theke. Der Mann griff danach und schlenderte hinüber zu den Tischen an der Fensterseite. Vielleicht mochte auch er es, Ruderer zu beobachten. Sie gehörten niemanden alleine, schon gar nicht, wenn man aus Mystki stammte.
Der Mann mit dem Bierglas in der Hand stellte sich neben Adam ans Fenster und sah hinaus. Nur für einen Augenblick.
„Kein Sport für mich“, sagte er.
Der Mann wollte reden, Adam nicht. Er hatte alle Worte an Blasinski verschwendet.
„Ich muss mal eben weg“, sagte die Wirtin von der Theke her.
„Ich pass auf den Laden auf“, entgegnete der Mann, ohne sich umzuwenden.
„Bin gleich wieder da.“
Mit einem scharfen Klicken klappte die Tür zu.
„Wollen sie etwas trinken?“, fragte der Mann.
„Ich habe noch.“ Zum Beweis hob Adam sein Bierglas.
„Schön“, sagte der Mann, während die Ruderer mit einem kräftigen Stoß unter der Brücke verschwanden. Adam überlegte, ob er zahlen sollte.
Der Mann wandte sich um und ging zur Theke hinüber. Adam versuchte, das Geräusch seiner Schritte zu ignorieren. Wie auch das Klappern, was daraufhin folgte.
„Wirklich nichts?“, fragte der Mann.
„Wirklich“, sagte Adam. Er brauchte nichts. Adam hatte genug. Aber das hatte den anderen nicht zu interessieren.
Die Eingangstür öffnete sich wieder. Ein Windstoß fegte herein und traf Adam von der Seite. Es wurde ungemütlich.
„Bin wieder da“, sagte die Wirtin.
„Gut“, entgegnete der Mann.
„War etwas?“
„Habe mir ein Bier gezapft.“
„Geschenkt.“
Eine Tüte knisterte, dann hörte Adam die Wirtin wieder hinter der Theke hantieren. Der Mann kam erneut zum Fenster herüber. Die beiden waren eine Zeit lang allein gewesen. Sie waren nun Freunde. Vielleicht nicht für Adam, aber für den anderen.
„Wird langsam kalt“, sagte er und setzte sich an Adams Tisch.
„Hm“, entgegnete Adam.
Der Mann war von robuster Natur. Er ließ sich nicht abschrecken. So musste man in Poznan sein. Man konnte etwas oder nicht. Es spielte keine Rolle, solange man hart im Nehmen war.
„Bist du von hier?“, fragte er.
„Mystki“, sagte Adam.
„Ich bin aus Ełk. Früher einmal“, sagte der Mann.
Früher einmal kam jeder von irgendwo her. Mit Glück konnte man bleiben. Wenn man keinen Blasinski traf und nicht Freunde wie Zylonka besaß.
„Du bist gerade erst angekommen, was?“, bemerkte der Mann.
„Heute“, sagte Adam.
„Morgen sieht die Sache schon anders aus“, entgegnete der Mann.
„Red nicht so viel, Piotr“, rief die Wirtin von der Theke herüber.
„Es ist nicht einfach, wenn man aus der Fremde kommt“, sagte Piotr und achtete nicht auf die Frau. „Ich habe es selber erlebt. Schließlich bin ich doch bei der Oper gelandet.“
„Er ist Garderobier“, erklärte die Wirtin, als müsse Adam dieses Detail wissen.
„Eines Tages schaffe ich es auf die Bühne.“
„Dann singst du den Rigoletto.“ Die Frau lachte. Ein jahrelang geübtes Lachen.
„Du bekommst eine Freikarte“, sagte Piotr.
„Ich mache mir nichts aus Opern“, entgegnete die Wirtin.
„Du machst dir etwas aus mir.“
„Nur aus deinem Geld.“
Die Frau hinter der Theke sagte nichts mehr. Sie sortierte die Flaschen. Adam sah aus dem Fenster hinunter auf den Fluss. Das Ruderboot hatte gewendet. Die Spitze des Bugs schob sich unter der Brücke hervor, in den Sichtkreis des Mannes aus Mystki. Kleine, kräftige Stößen trieben den Kiel ein Stück weit über die Strömung. Dann sah er die Ruderer. Unaufhörlich holten sie aus, tauchten die Paddel in die Fluten, streckten ihre Körper, bis die Ruderblätter aus den Wellen auftauchten und stauchten ihre Glieder zusammen, um zum neuen Schwung auszuholen. Die Ruderer verschwendeten keinen Gedanken daran, aufzuhören. Sie achteten auf den gemeinsamen Rhythmus. Wieder ging es ein Stück vorwärts. Das hatten sie gelernt.
„Hör nicht auf sie“, sagte Piotr.
Adam dachte an Mystki und an Robert Zylonka. Er dachte an seine Stammkneipe.
„Magst du Opern?“, fragte Piotr.
„Ich weiß nicht“, sagte Adam.
„Es ist unbeschreiblich, auf der Bühne zu stehen. Aber das kannst du nicht wissen“, bemerkte der Mann.
Das wusste Adam tatsächlich nicht. Bis dahin hatte er es noch nicht geschafft. Rigoletto auch nicht. Piotr stand auf und schlenderte zur Theke hinüber. Er legte das Geld auf den Tresen. Die Wirtin warf es in die Kasse. Sie zählte nicht nach.
„Morgen komme ich nicht. Morgen ist Aufführung“, sagte Piotr.
„Du kommst schon wieder“, sagte die Wirtin.
Wahrscheinlich hatte sie recht. Manche Orte verdienten es, dass man wiederkam. Andere aber nicht. So wie Mystki und Adams Stammkneipe. Irgendwie ging es doch immer weiter. Die Tür schnappte zu. Piotr war gegangen. Adam beobachtete in Ruhe das Boot auf der Warthe. Die Wirtin störte sich nicht an ihm.
Zwei Tage später öffnete Piotr die Tür zu der Kneipe an der Brücke. Der Gastraum war leer. Die herbstliche Sonne hatte sich durch die Wolken hindurch geschoben. Durch die Fenster sah er das Glitzern auf dem Fluss. Der Bug des Ruderbootes durchstach die goldenen Wellen mit kleinen, gleichmäßigen Stößen. Die Flaschen auf den Regalen waren sortiert. Die Wirtin war nicht da.
„Wie immer?“, fragte Adam und stützte sich mit den Händen auf den Rand der Abtropffläche. Er sah Piotr fragend an.
„Wie immer“, sagte Piotr.
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Das Leben aus der Story tritt -
Es nimmt den Leser ein Stück mit!
LG Axel
Vielen Dank, Axel. LG Magnus