Perlen seien die Tränen der Götter, meinte man in alten Zeiten. Man mag aus dieser Erklärung erahnen, als wie ungemein wertvoll damals Schmuckperlen erachtet wurden. Aber auch ein Umkehrschluss liegt nahe: Wie wertvoll mussten Tränen (in diesem Falle zwar göttliche) sein, wenn sie, anstatt im Staube der Bedeutungslosigkeit zu versinken, zu Perlen werden durften? Jedenfalls wird es den Göttern in genanntem Beispiele gestattet, zu weinen, OHNE sich lächerlich zu machen.
In Franz Schuberts Winterreise ist zu vernehmen:
Gefror´ne Tropfen fallen
Von meinen Wangen ab:
Und ist´s mir denn entgangen,
Daß ich geweinet hab?
Ei Tränen, meine Tränen,
Und seid ihr gar so lau,
Daß ihr erstarrt zu Eise,
Wie kühler Morgentau?
Und dringt doch aus der Quelle
Der Brust so glühend heiß,
Als wolltet ihr zerschmelzen
Des ganzen Winters Eis.
Mancher kennt aus seiner Schulzeit folgenden Ausschnitt eines Gedichts von J.W.v.Goethe (mit dem man seinerzeit vielleicht gar nicht viel hatte anfangen können?):
Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.
Man sieht, es gab Epochen (wie eben beispielsweise die Romantik oder die Deutsche Klassik), welche im Vergießen von Tränen nichts "Ehrenrühriges" fanden, da eine reiche Gefühlswelt - auch mit ihren "Auswirkungen" nach außen - als wertvoll und deshalb erstrebenswert erachtet wurde. Auf der Gegenseite stehen hartmachende Aufforderungen wie "Indianer kennt keinen Schmerz" und erniedrigende Bezeichnungen wie "Memme", "Heulsuse" und dergleichen, welche uns nicht selten bereits als Kinder das Gefühl vermittelten, nicht verstanden zu werden und uns, die wir gerade in schmerzreichen Situationen mitmenschliche Nähe, Wärme und Stütze mehr denn je gebraucht hätten, jetzt auch noch - durch unser "ungebührliches" Verhalten - zusätzlich isolierten. Inzwischen aber lernten wir, unsere Gefühle erfolgreich zu verstecken - schlimmstenfalls sogar vor uns selbst, denn wir sind letztendlich "vernünftig und tapfer" geworden, wozu hatte man uns schließlich den Indianer, welcher keinen Schmerz kenne, vorgebetet? (Es gab ja sogar eine Epoche unserer Geschichte, in der man "hart wie Kruppstahl" zu sein hatte.)
Man möge mich nicht falsch verstehen, ich breche natürlich keine Lanze für jene Art des Weinens, welches geschickt zum Erreichen irgendwelcher Vorteile uns nicht selten (leider recht erfolgreich) schon geradezu bühnenmäßig dargeboten wird. Ebenso zu verachten sind Tränen, welche lediglich die Aufgabe haben, im Gegenüber ein (unberechtigtes) schlechtes Gewissen aufkeimen zu lassen. Nein, von diesen "Krokodilstränen" soll man uns gefälligst verschonen! Aber ist es nicht ein untrügliches Zeichen unserer Doppelmoral, unserer Bereitschaft, uns selbst zu belügen, dass wir nicht selten über gravierendes eigenes Fehlverhalten großzügig und selbstgefällig hinwegschauen können, uns aber für etwas zu schämen bereit sind, was nicht schämenswert ist, wie das Weinen?
Leider wird zudem üblicherweise mit zweierlei Maß gemessen. Während eine weinende Frau eher Mitgefühl erweckt, solange der Gesamteindruck der Situation entspricht, bietet ein weinender Mann - so empfinden wir - einen weniger akzeptablen Anblick. Aber sollte er deshalb aus dem Lande der Tränen für immer ausgeschlossen sein? Sollte ihm ein großes Mysterium nicht zugänglich sein, wo doch Antoine de Saint-Exypéry im "Kleinen Prinzen" schreibt:
"Es ist so geheimnisvoll, das Land der Tränen."
Dieser Ratgeber will Mut machen, den "Heulsusenanteil" in uns nicht zu verachten und ihn deshalb vor der Gesellschaft und vor uns selbst nicht zu verstecken. Eingesperrt im hintersten Seelenkeller fristet er ansonsten ein finsteres, trauriges Dasein. Aber im Untergrunde - durch uns selbst und unsere anerzogenen Vorurteile ihm gegenüber zwar zur scheinbaren Untätigkeit verurteilt - ist er alles andere als friedfertig und gesundheitsfördernd. Es wurde trefflich festgestellt, dass wir weniger von dem erkranken, was wir essen, sondern eher von dem, was wir in uns hineinfressen. Deshalb wehe, wenn das ständig von uns unterjochte, von uns unbeachtet nach Freiheit schreiende "Weichei" einmal unkontrolliert ausbricht! In unseren Träumen, in psychosomatischen Alltagsbeschwerden, in uns unerklärlichen Stimmungsschwankungen u.s.w. zeigt es uns, wozu es fähig ist, aber wir verbieten ihm den Mund. Verständlicherweise haben wir vor diesem unkontrollierten Ausbrechen (nicht unbegründete) Angst. Versuchen wir doch zu lernen, dieses, unser ständig zurückgesetztes, von uns ungeliebtes "Heulsusenelement" als hilfreichen Teil von uns selbst anzuerkennen - kurz, es liebevoll zu befreien, aber auch zu kultivieren. Einen wertvolleren Dienst können wir ihm und damit uns nicht tun!
Nur dann ist auf Dauer die Gefahr gebannt! "Vor dem Sklaven, welcher die Kette bricht, vor dem freien Menschen erzittert nicht!", meint Friedrich Schiller. Darum leisten Sie sich den (bisherigen) Luxus des Weinens, dieser steht Ihnen zu! Natürlich, man mag einwenden, dass durch Tränen keine Probleme zu lösen seien, kurzfristig gesehen stimmt das, aber durch eine wiederholte, die Spannung und den inneren Druck abbauende Wirkung kommt es zu einer steten Beruhigung der Gedankenwelt, zu einer rückkehrenden inneren Ordnung, welche langfristig doch einer Problembewältigung dienlich sein kann (zumindest eher als ein unruhig herumrasendes Gedankenchaos, welches sich - wie ein Motor mit Lagerschaden - bis zur Selbstzerstörung heißläuft). Wer zu seiner augenblicklichen Stimmungslage steht und dieser Ausdruck verleiht, ist kein Feigling, feige ist dagegen der zu nennen, der wider besseres Wissen sogar sich selbst den Helden vorgaukelt, der er gar nicht ist (und durchaus auch nicht immer zu sein braucht). Ein Plädoyer also für das Weinen, das persönliche, das kultivierte Weinen, welches kein Publikum braucht! Gelegenheiten und Örtlichkeiten dazu gibt es viele: einen Spaziergang (ohne Begleitung natürlich), Arbeit im Garten oder der Heimwerkstatt, Schwimmen in einem See, die Zeitspanne vor dem Einschlafen ... dem Suchenden zeigen sich immer wieder neue ansteuerbare, besuchenswerte "Inseln im Lande der Tränen" ...
Wenn ich hier dem zurückgezogenen Weinen das Wort rede, dann ist das kein Widerspruch zu meiner obigen Aussage, dass sich dafür niemand zu schämen brauche. Ein großer Vorteil ist es aber, wenn man beispielsweise als Ziel vor Augen hat: "Jetzt ist es gerade ungünstig, aber heute Nachmittag, bei der und der Gelegenheit, werde ich in Ruhe und ungestört Druck abbauen können", - sogar indem man sich selbst so vertröstet, wird bereits Trost als baldigst erreichbar erlebt und - man ist unabhängig von anderen.
Wir dürfen nämlich nicht außer Acht lassen, dass wir feinfühlige Mitmenschen durch unser Weinen eventuell über Gebühr belasten (hat doch jeder sein Päckchen zu tragen), wir von unsensibleren Zeitgenossen aber letztlich weder Trost noch Hilfe erwarten können. Seien wir uns also selbst die Nächsten und prüfen wir trotz allem sorgfältigst, wem wir unser wahres, in diesem Falle tränenfeuchtes, Gesicht zu zeigen bereit sind, was immer ein Zeichen großer Vertrautheit und innerer Verbundenheit bleiben sollte. (Gestatten Sie mir - zur Auflockerung der Thematik - die zwar boshafte aber gar nicht so abwegige Bemerkung, dass Sie auf weniger liebenswürdige Mitmenschen stoßen könnten, welche ihre derzeit desolate Lage schadenfroh zu ihrer eigenen Erbauung nutzen, obwohl sie Ihnen recht scheinheilig teilnahmsvoll begegnen. Diese garstige Freude wollen wir doch niemandem bereiten. Wozu haben wir schließlich inzwischen vielleicht schon ein bisschen gelernt, zu uns - zu ALLEN UNSEREN ANTEILEN - liebenswürdig zu sein!?)
Abschließend seien zur "Kultur des Weinens" noch Formen aufgezeigt, welche als "Trockenweinen", quasi als "Weinen in Pulverform" zu betiteln wären. Ich denke hier an das ruhige vor-sich-Hinsummen (oder -Singen) getragener Melodien, das Spielen leise schwebender Takte auf einem Instrument (beide Beispiele im Charakter eines still dahinfließenden Gewässers), das Niederschreiben entsprechender Verse, das in-Worte-fassen der augenblicklichen Gefühlslage in einem Tagebuche, das Formulieren eines Briefes an einen vertrauten Menschen (man braucht ihn ja nicht abzusenden!),
das Führen von Selbstgesprächen (in Gedanken oder wennmöglich sogar halblaut), in denen man - sich gut zuredend - die jeweils bedrängende Situation bearbeitet, die innige Betrachtung oder gar das Malen eines ansprechenden Bildes, das längerandauernde zärtliche Liebkosen eines Haustieres, das intensive Betrachten des Sonnenuntergangs (vgl."Der Kleine Prinz"), das geduldig zuhörende Anrufen eines Menschen (für den man bisher oft nicht die nötige Zeit aufbringen konnte), ohne diesen natürlich mit den eigenen Sorgen zu erdrücken ... Dieses "Trockenweinen" zeitigt ähnlich heilende und reinigende, druckabbauende Wirkung, obwohl es (meist) tränenfrei ist.
Sich der Kultivierung des Weinens zu widmen, bedeutet auch, zu versuchen, den Überblick nicht zu verlieren, d.h. die Dosierung im Auge zu behalten. Niemandem fiele ein, ein Fläschchen, gefüllt mit einer heilenden Medizin, in einem Zuge zu leeren. Der Schaden wäre möglicherweise gewaltig. Die richtige Dosierung ist gefragt, eben die tröpfchenweise, dafür aber regelmäßige Anwendung. Nur sie verspricht anhaltende Linderung der Beschwerden.
Man steht sich (wieder einmal) selbst im Wege, wenn man "tapfer durchhält", bis das Maß übervoll ist, wenn man den Stausee aufstaut, bis der Damm zu brechen droht. Bohrt man aber genannte Staumauer rechtzeitig an vielen Stellen an, dann werden zahlreiche Sickerstellen - tröpfchenweise - eine ansonsten drohende Katastrophe verhindern. Dieses gewissermaßen prophylaktische Weinen scheint die Kultur des Weinens ad absurdum zu führen, aber sind wir ehrlich, ertappten wir uns nicht schon oft beim Lachen (oder Grinsen), wo es gar nichts zu lachen gab, warum sollte man dem Weinen das nämliche Recht verwehren? Zuerst kommt immer das Wollen ("Ja, ich will mir Gutes tun, ich will es zulassen"), dann das Können ("Ich kann damit sinnvoll, also entspannt und angstfrei, umgehen") und dann erst das Tun. Die Kultur des Weinens setzt die Kunst des Weinens voraus, aber "Kunst" kommt von "können"! Der Schlüssel zum individuellen Erfolge liegt in geduldigem Umgange mit uns selbst - seien wir dankbar, dass man uns die wertvolle Gabe in die Wiege gelegt hat, stets Lernende bleiben zu dürfen!
Ich wünsche Ihnen den Mut, zu sich selbst zu stehen, also sich in obigem Sinne Gutes tun zu wollen, sind es doch die bedeutendsten Siege, welche man über sich selbst zu erringen vermag!
Sollte es mir mit diesem Ratgeber, der mich bis zu seiner Entstehung wochenlang beschäftigte, der zu seiner Vorbereitung auf manch einfühlsames Gespräch mit vertrauten Mitmenschen angewiesen war, gelungen sein, auch nur einem einzigen Leser eine bescheidene Hilfe zur Selbsthilfe dargeboten zu haben, dann war er meine Mühe wert. An ihrer Bewertung, werter Leser, sehe ich, ob ich damit hilfreich sein durfte. Ich werde stets bereit sein, diesen Artikel an geänderte Verhältnisse und neue Erfahrungen zu adaptieren, zu ergänzen und sogar - nötigenfalls - wieder zu entfernen, denn ich wollte niemandem damit zu nahe treten!
Idee: Frühjahr 2012, fertiggestellt: 4.11.2012