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Martin Grambauer hungerte nicht minder, aber er,
der sonst immer Sattgewordene, fühlte die Qual des Hungers weniger.
Das ist auch eine der falschen Redensarten, dass arme Leute das Hungern
leichter ertragen, weil sie es gewöhnt sind.
Im Gegenteil, wer immer nur gerade seinen Hunger stillen kann, der wird
viel eher schwach, wenn auch das wenige
noch ausbleibt; wer aber stets so viel essen konnte, wie
er wollte, der hält viel leichter mal einen Tag ohne Essen aus.
(Ehm Welk, Die Gerechten von Kummerow)
Die Clique
In der Veranda war es fast so kühl wie in der großen Küche, deren Fenster zum Hinterhof lagen und die durch den Vorraum zu Tante Agnes' Grundstück neben dem Park führte. Ich setzte mich auf einen der schönen hölzernen Stühle und betrachtete den hohen Postberg, der, akkurat gestapelt, auf dem großen runden Eichentisch auf seine Empfänger harrte. Offenbar hatte noch niemand die Karten und Briefe durchgeforstet. Opa war fast immer der Erste, dem die Post in die Hände fiel. Die meisten Sendungen waren an Frau Brandner gerichtet: Samen- und Gewächshauskataloge, Rechnungen, das Monatsjournal für Waldbesitzer, Landwirtschaftszeitungen, Briefe von Verwandten und Bekannten. Mir stach eine Ansichtskarte ins Auge, die, der Briefmarke nach zu urteilen, aus Rom stammte. Die Vorderansicht zeigte ein Gemälde von Michelangelo. „Die Heilige Familie“, las ich auf der Rückseite. Ich vertiefte mich eine geraume Weile in die farbige Darstellung und kam zu dem Schluss, dass Josef darauf unheimlich alt aussah. So hatte ich ihn mir eigentlich nicht vorgestellt, obwohl ich längst wusste, dass er viel älter als Maria gewesen war. Und das Jesuskind trug eine ganz merkwürdige Frisur – wie frisch gelegte Oma-Dauerwelle, die nie ausgekämmt wird. Aber der Faltenwurf von Marias schönem Gewand war „einsame Spitze“, liebe Christine.
Ich wendete die Karte und schaute auf den Empfänger. „Frau Agnes Maihofer ...“ stand im Adressfeld. Schon wollte ich losfliegen wie Hermes, der Götterbote, um Tante Agnes den Michangelo zu überbringen, als ich auf den grauen Mamorfliesen unterm Tisch eine weitere Karte hervorschimmern sah. Sie war vermutlich versehentlich heruntergefallen. Das Motiv erkannte ich sofort; es prangt ja auf fast allen Postkarten, die in den Kartenständern vor den Souvenirläden der nahe gelegenen Stadt einsortiert waren: das Lübecker Holstentor.
Ich kroch unter den Tisch und zog die Karte hervor. Vielleicht war sie an Oma und Opa gerichtet. Nein, Axel Kröger war der Adressat. Hastig überflog ich den Inhalt. Mich plagte dabei kein besonders schlechtes Gewissen. Axel Kröger gehört für mich zum Kreis der Verdächtigen, was Knut anbelangt.
„Hallo Axel!“, las ich mit klopfendem Herzen. „Es gibt Neuigkeiten in besagter Angelegenheit. Unser Freund weilt zur Zeit in südlicheren Gefilden. Sei vorsichtig. Näheres mündlich. Sieghelm.“
Wenn das keine Geheimsprache war! Ich übertrug den mysteriösen Text in mein Notizbuch. Die Nachrichten, auf die ich sehnsüchtig gewartet hatte, waren ausgeblieben: Es gab weder einen Brief von der lieben Christine, liebe Christine, noch ein Lebenszeichen vom unvergleichlichen Harry, der mich in letzter Minute – ich befand mich bereits außerhalb des Schulhofs und wollte eilends nach Hause zum Kofferpacken – um meine Ferienanschrift bat. Ich war so überrascht, dass ich kein vernünftiges Wort herausbrachte. Ein letzter Blick aus seinen schwarzen Samtaugen, bevor wir uns trennten. Ich schwebte durch unsere kleinen Straßen, als seien mir Flügel gewachsen.
Dass Harry neu in meiner Klasse ist, habe ich dir ja bereits vor einigen Wochen geschrieben. Und jetzt lasse ich dich hiermit offiziell wissen, dass ich sehr verliebt in ihn bin.
Ich legte den Michelangelo zurück auf den Poststapel, und sah mir das Buch, das ich blindlings aus Opas Regal gefischt hatte, etwas genauer an. War das überhaupt ein Krimi? „Die Gerechten von Kummerow“ prangte in goldfarbenen Lettern auf dem schmucken Einband. Die Zusammenfassung auf der zweiten Seite hörte sich vielversprechend an. Anstelle eines Vorworts war ein Brief von einem gewissen Professor Dr. Hans Meyer an den Verfasser Ehm Welk abgedruckt. Irgendwie kam mir der Inhalt bekannt vor. Es mochte ein paar Jahre her sein, dass unser damaliger Deutschlehrer uns dieses Buch vorgestellt hatte.
Binnen weniger Minuten vergaß ich, was im Haus, hinter meinem Rücken, und unmittelbar vor meiner Nase, nämlich auf dem Hof, vor sich ging; ich vergaß, was ich mir für den Rest des Tages vorgenommen hatte, den unvergleichlichen Harry, den verwegenen Hannes und sogar dich, liebe Christine; aber sei deshalb nicht allzu bekümmert – ich vergaß nämlich auch mich selber. Erst als sich eine Hand auf meine Schulter legte, fiel mir ein, dass ich mit der Dorf-Clique verabredet war. Na klar, wir wollten zum Baden in den Lachauer Forst.
Ich drehte meinen Kopf zur Seite. Hannes stand hinter mir, vermutlich war er durch das Herrenzimmer geschlichen, und starrte auf die Buchseiten, als bekäme er binnen weniger Sekunden heraus, was ich mir während einer guten Viertelstunde angelesen hatte. Er trug dunkelblaue Shorts und ein blaugelb gestreiftes Polohemd. Mir schien, als wäre seine Haut im Vergleich zu gestern noch um zwei Nuancen brauner geworden.
Ein wirklich schmucker Bursche, hätte Oma geschwärmt, wäre er ihr in dieser Freizeitkluft über den Weg gelaufen – ich übrigens auch, gäbe es den unvergleichlichen Harry nicht. Dass Oma Anita große Stücke auf Hannes hält, habe ich aus den „Gesprächen“, die sie mit Mutti, Leni und Tante Agnes über Axel Kröger und dessen Verwandtschaft führt (Blablabla), schon längst herausgehört.
„Komm jetzt, Katja“, drängelte Hannes, „wir sind so weit.“
Als ich aus der sehr kühlen Veranda auf den Hof trat, schwappte mir die Hitze wie eine kriegerische Front entgegen.
Ich schnappte mir Lenis klappriges altes Fahrrad, das ich an die Verandamauer gelehnt hatte und folgte ihm in den Hof. Kora und Konny warteten vor dem Schweinestall und sahen Tante Agnes zu, die die Sauen und Ferkel mit einem Gartenschlauch abspritzte. Die Erde war schon völlig aufgeweicht, und Lisa, ein hellhäutiges schlankes Ferkelchen aus dem letzten Wurf von Susanna, wälzte sich glücklich in der dunklen Schlammschicht.
„Das hilft ganz prima gegen Sonnenbrand und Insekten“, klärte Konny uns auf. „Schweine können nämlich nicht schwitzen, weil sie keine Schweißdrüsen haben. Deshalb wälzen sie sich gerne im Schlamm. Erst recht bei dieser Hitze ...“
„Ja, ist doch gut, Konny. Wir wissen längst alle,
Kommentare
Annelie, ich komme erst später dazu, den ganzen Text zu lesen, lobe voresrt nur deine kreative Collage.
Schnitt. Jetzt habe ich mehr gelesen und mich über das dauerwellgelockte Jesuskind amüsiert. Ich wundere mich auch nicht darüber, dass die ICHerzählerin, die dich sicher teilweise beschreibt, schon immer eine Leseratte war - wie ich übrigens auch. Du erzeugst Spannung mit deiner lebendigen Sprache.
Liebe Grüße - Marie
Klar, liebe Marie. Lass dir nur Zeit.
Liebe Grüße,
Annelie
Dein Leser geht gern mit auf Tour!
(Wenn auch in Gedanken nur ...)
[Krause findet die Collage gut -
Der Saurier gleicht ihr absolut ...]
LG Axel
Dank, Axel, dir, für deinen Kommentar.
Beim "Collagieren" dachte ich ja auch an KRAUSE,
an Fußball, Bier, an 100 Euro und so manche SAUSE.
Ich hatte Schwierigkeiten mit dem Text,
ihn zu kopieren, war heut' wie verhext.
Und ein Gedankenstrich, falsch eingefügt, war Schuld daran;
ich war schon recht verzweifelt, fing jedoch von vorne an.
LG Annelie
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