Wann hat das angefangen?

Bild von Lena Kelm
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Der Vorraum ist überfüllt, Leute niesen und husten, ich überbrücke die lange Wartezeit und gehe ins Café nebenan. Kaffeeduft umweht meine Nase, von der Tür blättert Farbe, das Werbeschild „Frische Backware“ kann mich auch nicht mehr täuschen. Trotzdem bestelle ich eine Teigtasche zum Latte-Macchiato bei einer schönen, von Kopf bis Fuß in schwarz gehüllten, Araberin. Der Kaffee kommt frisch und heiß aus der Maschine, wenn auch nicht bester Qualität. Die Inhaber sind so freundlich, vielleicht bringe ich es deshalb nicht übers Herz, sie auf die bekleckerten Platzdeckchen hinzuweisen. Nichtdestotrotz genieße ich den heißen Kaffee und decke das Deckchen mit der Tageszeitung ab.
Die Tür geht auf, den Raum betritt eine junge Frau mit einem kleinen Jungen, gefolgt von einem älteren Paar. Die Junge ist der Älteren wie aus dem Gesicht geschnitten. Wunderschön, drei Generationen treffen sich zum Frühstück! Sie lassen sich am Nebentisch nieder. Zwischen unseren Tischen könnte sich kein Skelett aus dem Museum für Anatomie durchzwängen. Wir sitzen praktisch an einem Tisch. Die Ältere neben mir, die Junge gegenüber. Das Kind, in einer Hand einen Donut, in der anderen ein Plastikspielzeug, vielleicht ein Überraschungsei, soll mit dem arabischen Jungen spielen, fordert ihn die Mutter auf. „Kick ihn an!“ Sie widmet sich ihrem Handy, wischt übers Display, tippt, Entschuldigung: „toucht“, schnell etwas ein. Ich widme mich der Zeitung. Nach einer Weile fragt die Ältere unterwürfig: „Wo wart ihr denn gestern?“, und beißt vom Croissant ab. Die Antwort folgt einsilbig. Der Mann trinkt schweigsam, mit leerem Blick Kaffee, seine Kiefermuskeln sind angespannt. Ich nehme mir die aktuellen Pressemeldungen vor, deren Themen so alt sind wie ich. Die vermeintliche Familie überlasse ich ihrem nicht in Gang kommenden Frühstücksplausch.
Nach zwei weiteren Beiträgen der Kulturseite und einem Schluck Kaffee schaue ich auf, die Situation ist unverändert. Die junge Frau tippt wohl eine SMS. Ihre Mutter fragt: „Was schreibst du denn?“ Keine Antwort ist auch eine Antwort. Sie schickt die Nachricht ab, legt wie erwartet das Handy nicht zur Seite, „toucht“ weiter. Die Mutter fragt unsicher: „Hast du schon mit dem Arbeitsamt gesprochen?“ Die Tochter schüttelt den Kopf. „Nö!“ – „Dann kommt auch kein Geld.“, sagt die Mutter leise, es klingt resigniert. Die Tochter telefoniert. Ich verlasse das Café, hoffend, dass am anderen Ende das Jobcenter ist und sie einmal den Blick vom Display heben möge.
Nach meinem Arzttermin treffe ich zufällig die Familie wieder. Der kleine Sohn läuft vor der jungen Mutter, die beiden Alten folgen. Es wundert mich nicht, die junge Frau hält ihr Smartphone in der Hand. Vielleicht haben sie sich inzwischen unterhalten, rede ich mir ein. Mich stimmt die Geschichte traurig. Wieso treffen sie sich, wenn sie einander nichts zu sagen haben? Wie konnte es soweit kommen? Ich hätte gerne eine schöne Geschichte über ein glückliches Drei-Generationen-Treffen geschrieben.

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