Ich war als Kind kein Tom Sawyer. Auch wenn die Bedingungen zu jener Zeit und vor Ort durchaus ein solches hätten zulassen können. Die Gera - welche durch meinen damaligen Heimatort Erfurt floss - das Thüringer Pedant zum Mississippi. Der Mief von Verfall und gesellschaftlicher Fäulnis - als wäre er direkt den fadenscheinigen Hosen Muff Potters entstiegen. Mein Vater: streng wie Tante Polly. Und die Zukunft des um mich wabernden real existierenden Sozialismus - so schwarz wie Neger Jim.
Sicher, im einen oder anderen Detail kann meine Erinnerung trügen. Bekanntermaßen scheint die Zeit ja recht wenig Hobbys zu haben, außer vielleicht, uns - mehr oder weniger wunschgemäß - die eigene Erinnerung zurecht zu biegen. Was ich aber genau weiß ist, dass wir arm waren wie die Baumwollpfücker. Was selbst im Osten recht ungewöhnlich war. Denn hier wuchs ja gar keine Baumwolle.
Wir waren also finanziell recht schwach auf den familiären Beinen, doch musste ich nie die Sachen meiner älteren Geschwister auftragen. Was zum Großteil gewiss auch daran lag, dass ich der Älteste war. Wir hatten wenig, davon aber mehr als genug. Nicht mal Westverwandte hatten wir. Und damals wussten wir ja noch nicht, dass dieses heute durchaus positiv zu sehen ist. Schließlich bleibt uns somit in der aktuellen Finanzkrise erspart, Care-Pakete über sozialen Brennpunkten wie Sylt oder der Münchener Altstadt abzuwerfen. Wir haben dort ja niemanden. Aber dies nur am texterischen Rande.
Nein, ich war kein Tom Sawyer. Mich lockten keine Abenteuer, ich blieb in der spärlich möblierten Wohnstube, was ich auch heute noch gerne mache, denn draußen, da lauern Putin und Ebola, also lauter so Sachen, die man wirklich nicht will, außer man hat einen genetisch bedingten Drang zu äußeren und inneren Blutungen. Meine Kindheit verlief von den letzten vollgeschissenen Windeln bis zum ersten Sackhaar gleichförmig und ohne nennenswerte geschichtliche Ausbuchtung. Nichts geschah. Es war, als übte ich Rente.
Was mir aber dennoch in Erinnerung blieb waren die Monatsanfänge, an denen mein Vater, also Tante Polly, mir regelmäßig einen Comic dar brachte. Und dies über viele Jahre hinweg. Unter der Roten Knute hieß so ein Comic natürlich nicht Comic. Es hieß Mosaik. Und seine Protagonisten waren die Digedags, drei Zwerge, Gnome, also Kleinwüchsige, was man in dieser Form heutzutage nur noch gelegentlich auf RTL II zu sehen bekommt. Damit Unkundige sich ein halbwegs treffendes Bild schaffen können, empfehle ich, sich gedanklich den Fetteren der Wildecker Herzbuben vorzustellen, dazu Florian Silbereisen und Andreas Gabalier, allerdings allesamt beinamputiert bis übers Knie. Und dieses Trio steckt man zudem gedanklich in die quietschbunten kindgerechten Klamotten, die sie sowieso immer anhaben. So in etwa muss man sich die Digedags vorstellen. Nur in drollig. Und in gewitzt. Und diese Digedags erlebten Abenteuer in Zeit und Raum, stellvertretend für solch Stubenhocker wie mich, vom Wilden Westen bis zum Weltenraum, also Geschichten, die selbst heutzutage vom Durchschnittsbürger doch eher selten durchlebt werden. Sei es mangels einer Zeitmaschine. Sei es, weil man mit Höhen oberhalb einer dreistufigen Küchenleiter nicht zurechtkommt.
So war also meine späte Kindheit in zeitliche Sektoren eingeteilt, begrenzt durch das Erscheinen jenes Mosaiks. Ich ging von Monat zu Monat, zerlas die alten Exemplare bis zur Unkenntlichkeit, und spüre noch heute die Freude, die ich einst empfand, nahm ich eine neues Heft aus den Händen meines Vaters entgegen. Und dieses Gefühl kann nicht einmal der dieszeitige Empfang der monatlichen Lohntüte toppen. Was zum Teil auch am Thüringer Durchschnittslohn liegen dürfte.
Nun, den Großteil Hefte habe ich längst verloren. Dreimal umgezogen ist wie einmal abgebrannt, und da die Hefte - bis auf die metallenen Klammern - aus Papier bestanden, hatten sie eine sehr geringe Halbwertzeit. Und die Klammern allein wollte ich nicht aufheben. Man hebt ja auch nicht den Bindestrich auf, nur weil man mal mit einer Miriam-Helene verheiratet war. Nur ein paar wenige Mosaiks nenne ich noch mein eigen. Ich habe sie gut verwahrt, nehme sie aber nur selten zur Hand, da ich einfach vom Gemüt her zu fragil gebaut bin, und wenn ich etwas scheue, so ist es die Begegnung mit der Vergangenheit. Denn egal ob die Vergangenheit gut oder schlecht war: man bereut. Man bereut, dass sie vorbei ist. Man bereut, dass sie so war wie sie war. Und dann bereut man, dass man bereut. Und dann ist der Abend so richtig am Arsch.
Wo mancher Abend endet
von Lothar Peppel
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- Autorin/Autor: Lothar Peppel
- Prosa von Lothar Peppel
- Prosakategorie und Thema: Essay
Kommentare
Eine ganz tolle Geschichte.
Sehr gerne gelesen.
HG Olaf
Das Lesen hab ich nicht bereut:
Im Gegenteil - ich war erfreut ...
LG Axel