Das dunkelbraune Posiealbum

Bild zeigt Ingrid Herta Drewing
von Ingrid Herta Drewing

Ja, es gibt sie noch immer, diese Poesiealben, wenn sie auch ein wenig anders gestaltet sind.
Heute schaut dich kein weißes Blatt mehr an und fordert dich indirekt auf, ja fein säuberlich zu schreiben und schöne Glanzbildchen einzukleben. Auf einem farbigen Hintergrund gibt es Fragen nach den Vorlieben und Abneigungen der eintragenden Person. So ein Freundschaftsbuch, wie es heute genannt wird, markiert aber meistens noch immer den Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt. Als Teenager fühlt man sich schon ein wenig erwachsen und sammelt hier Eintragungen von Menschen, die man mag.
Damals in der Nachkriegszeit waren es überwiegend die Mädchen, die Poesiealben führten.11 Jahre war ich alt, als mich meine gleichaltrige Freundin Gudrun bat, mit ihr ins einzige Kaufhaus der Stadt zu kommen, um für sie ein Poesiealbum auszusuchen.
Ich hatte auch schon eifrig gespart, um eines kaufen zu können. Aber mir fehlten noch 3 DM. Das war damals viel Geld, z.B. kostete ein Bällchen Eis nur 10 Pfennige. Taschengeld gab es nicht. Wir waren vier Kinder, und unsere Eltern rackerten sich ohnehin schon ab, um die Familie durchzubringen. Frühestes in einem Monat, an meinem Geburtstag würde ich auch in der Lage sein, mir diesen Wunsch zu erfüllen.
Ich arbeitete damals immer einmal in der Woche nachmittags in der Stadtbücherei als Bücherkind. Da hatte ich Bücher, die zurückgegeben worden waren, wieder in die Regale einzusortieren. Der Vorteil dieser Tätigkeit war, dass ich mir kostenlos Bücher ausleihen konnte und außerdem 60 Pfennige verdiente. Nach jedem dieser „Arbeitstage“ ging ich, einen großen Stapel Lesefutter in der Tasche tragend, mit dem selbstverdienten Geld stolz nach Hause. So viele Bücher wie damals habe ich erst wieder in meiner Studienzeit gelesen.
Gudrun, als Einzelkind wohlhabender Eltern, bekam reichlich Taschengeld und konnte sich so einiges leisten, was mir versagt blieb. Aber das war (aus heutiger Sicht) nicht unbedingt von Nachteil für mich. Wäre ich sonst so hautnah an die vielen Bücher herangekommen? Gelegenheit macht Liebe! Hier galt das für mein Lesen ganz gewiss.
Im Kaufhaus angekommen,steuerten meine Freundin und ich in der Papierwarenabteilung zum Regal der Poesiealben. Das Angebot war nicht gerade überwältigend. Vier Alben gab es noch zu kaufen; drei waren dunkelbraun eingebunden, aber eines strahlte mich in leuchtendem Rot mit Goldrand geradezu an. Wie gerne hätte ich es jetzt schon besessen! Aber ich musste das Geld ja erst noch zusammensparen.
„Was meinst du, welches soll ich mir kaufen? Welches findest du am schönsten?“, fragte Gudrun, mich aus meinen Überlegungen holend.
Und plötzlich war sie da, die böse, egoistische Stimme: ‚Sag ja nicht das Rote, sonst kauft sie es sich, und du musst dich dann mit einem der braunen Restexemplare begnügen! So schnell gibt es hier keine neuen roten Alben zu kaufen!‘
„ Ich würde mir das braune Album kaufen, das gefällt mir am besten; das sieht irgendwie edel aus.“, log ich meine Freundin an. So ganz wohl war mir zwar dabei nicht. Aber ich beruhigte mein Gewissen, indem ich mir einzureden versuchte, es sei es ihr wohl nicht so wichtig wie mir . Gudrun folgte tatsächlich meinem verlogenen Rat und kaufte sich erfreut das dunkelbraune Poesiealbum.
„Lügen haben kurze Beine.“, sagt das Sprichwort. Meine Lüge hatte relativ lange Beine. Niemand erfuhr davon, nur ich wurde auf nachhaltige Weise von ihr eingeholt.Gudrun schenkte mir nämlich freudestrahlend zu meinem Geburtstag das dunkelbraune Poesiealbum, das ich mir ja quasi selbst ausgesucht hatte.
Das war mir eine Lehre, die mich ein Leben lang begleitet hat, die Erkenntnis, wohin Falschheit, Lüge und Egoismus führen .
Das dunkelbraune Poesiealbum bewahre ich übrigens noch immer auf.

© Ingrid Herta Drewing,DICHTEREI, 26.07.2009

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