„...im ganzen Land besteht die Gefahr von Orkanböen.
Sie hörten den Wetterbericht von Radio Niedersachsen. Es ist Sonntag, der 13. Januar 2019, viertel nach acht.“
Ich schalte das Radio aus und widme mich wieder meinem Strickzeug. Ein Farbexperiment, Lilatöne, pink, rosa, orange. Ob ich diesen Schal jemals tragen werde? Egal, ich liebe diese modernen Strickgarne mit den ineinanderlaufenden Farben. Töne, die ich niemals kombinieren würde, Spannung und Harmonie in Einem. Da wird das Stricken zur Sucht und meine ganze Familie läuft bereits mit bunten Schals und Mützen herum. Während ich Masche für Masche von einer Nadel auf die andere gleiten lasse, und mich in Gedanken mit der ‚Anatomie der Socke‘ beschäftige, höre ich, wie sich draußen etwas zusammenbraut. Es rauscht in den Baumkronen, Regen schlägt gegen die Scheibe. Ich trete ans Fenster und ziehe die Gardinen zurück. Ein Blitz huscht vorbei. Ich liebe Unwetter. In ihrem Schutz kann ich die angestauten Energien in meinem Körper loslassen. Mit dem Donner kann ich schreien… als Kind habe ich das oft getan, trotz der entsetzten Blicke von Großmutter, Tante und Schwester. Mit dem Sturm kann ich rennen, oder mich ihm mit ausgebreiteten Armen entgegenwerfen. Seine Kraft zu spüren, durch die Kleidung, auf der Haut, das hat etwas Erotisches, genauso wie der Regen, wenn er, nachdem er meine Kleidung durchdrungen hat, zwischen meinen Brüsten hindurchrinnt.
Im Moment spüre ich nur das angenehme Prickeln von Gefahr im warmen sicheren Wohnzimmer. Der Hund und die Katzen haben den Raum bereits verlassen. Kater Tom vorweg, dann Liese, die Katzenkinder und zum Schluss der Hund, das kleinste Kätzchen im Maul. Exodus. Ins Schlafzimmer. In Mamas Bett, den vermeintlich sichersten Ort im Haus. Feiglinge.
Draußen entwickelt sich der Sturm. Ein Heulen überfällt den Garten, tief und unheimlich, als käme es aus dem Inneren der Erde. Eine Kraft, von unten nach oben. Sie hebt die schweren Terrakottakübel an und lässt sie wieder fallen. Der Kirschbaum reißt entsetzt die Arme hoch und dreht sich im Kreis. Bisher hat er jeden Sturm überstanden…
Abgerissene Äste krachen gegen die Fensterscheibe. Ein Kreischen stürzt vom Himmel, wie ein hungriger Wolf. Die alte Eiche am Parkplatz stellt sich ihm entgegen und kann ihn doch nicht aufhalten. Ein Kampf entbrennt zwischen dem riesigen Baum und dem Sturmwolf. Zwei Titanen, die versuchen einander zu brechen, und doch für eine Weile gleich stark sind. Dann reißt der Sturm einen schweren Ast aus dem Körper des Baumes. Sein Schmerzensschrei mischt sich mit dem Triumphgeheul seines Gegners. Ein Blitz erhellt die schreckliche Szene und zeigt für den Bruchteil einer Sekunde einen Krähenschwarm, der erbarmungslos in den schwarzen Himmel geschleudert wird. Der Donner lässt den Parkettboden erzittern.
Ich fliehe zurück in den schützenden Lichtkreis der Stehlampe. Soviel Unwetter hatte ich dann doch nicht gewollt.
Da hocke ich nun auf dem Sofa und umklammere meine Stricknadeln, bereit, für den nächsten Angriff. Doch nichts geschieht. Es ist still, windstill, nur ein paar vereinzelte Regentropfen verirren sich noch an die Fensterscheibe.