Vorbemerkung:
Die Erzählung „Akazien im Feuer“ ist die Geschichte einer Familie in einer Zeit vieler existenzieller Prüfungen. Die eigentliche Hauptfigur ist Gerd, ein Junge von etwa 13 Jahren, aus dessen Erleben die Geschichte seiner Eltern, insbesondere die seines Vaters, erzählt wird. Der folgende Text ist ein Ausschnitt aus dieser Erzählung.
Nach dem Verlust von Heimat und Geborgenheit erlebt Gerd mit seinen Eltern, was es heißt, ein Fremder zu sein und als solcher elend untergebracht zu werden und dem Elend anderer Menschen zu begegnen. Endlich eine eigene Wohnung zu haben, wenn auch in einem ziemlich herunter gekommenen Viertel, bedeutet nicht, sich in einer angenehmen Umgebung zu befinden. Die Begegnung mit einer fast verkommenen Frau als Nachbarin kann Gerd nur im Hass auf sie verkraften. Eine schlimme Erfahrung für ein entwurzeltes Kind, was Gerd ja eigentlich noch ist.
Sie gingen das Stück Straße hinunter bis zu dem seichten Bach. Auf der Straße lag der modrige Geruch langsam dahinfließenden Wassers. Wie Öl floss es zwischen
veralgten Steinen, Büchsen und verstreuten Glasscherben. Das Ufer war durch eine brüchige Mauer befestigt. Streifen abgelagerten Kalkes zeigten die Wasserstände an. In
der Mitte des Baches lag der obere Teil eines Kinderwagens, schlammig und aufgeschwemmt.
Sie bogen in die Koloniestraße ein. Rechts erhob sich steil ein Abhang. Der oben gelegene Teil der Stadt war mit dem unteren durch zwei lange Treppen verbunden. Sie gingen vorbei an der ersten und sahen hinauf zum Wasserturm.
Unweit davon stand ein verfallener Wehrturm, ein Rest der alten Stadtbefestigung. Luken und Eingang waren durch grobe handgeschmiedete Eisengitter verschlossen. Gerd erinnerte sich an einen Bericht, nach dem in diesem Turm eine Frau, die man der Hexerei bezichtigt hatte, dem Hungertode übergeben worden war. Diese Erinnerung weckte Gerds lebhafte Fantasie.
Er sah diese Frau vor sich mit langem, blondem Haar. An ihrem Körper hing ein Kleid aus grauem, grobem, ausgefranstem Stoff. Sie klammerte ihre Hände um die Eisenstäbe. Ihre Finger waren wie trockene, abgeschälte Zweige, in gleiche Stücke zerbrochen. Auf dem Handrücken spannte sich nur noch spröde Haut über die Knochen.
Ihr Gesicht war nur noch Augen und Mund. Sie schrie nicht mehr. Sie schien nur noch zu spüren, wie sich der Hunger in ihr in ein Tier verwandelte, das seine Glieder in ihre Arme,
in die Schenkel und Waden, in den Kopf und in die Brust bohrte. An diesen Gliedern saßen tausend winzige Mäuler, die sie von innen auffraßen.
Die Frau klammerte sich mit den Händen an die Stäbe. Sie waren erstarrt und hielten sie wie an Haken aufrecht.
Gerd wollte dieses Bild aus seinem Gedächtnis pressen. Er richtete eine Wand zusammenhangloser Erinnerungen auf: eine Hand, in der eine Weizenähre lag; ein Messer, das drei Kreuze auf einem Brotlaib beschrieb; Sieglindes Gesicht mit den braunen Augen; die volle Mähne des Pferdes; einen wilden, rankenden Apfelbaum an dem Feldsteingemäuer eines mächtigen Hauses; ein Kalb und ein Fohlen an den Zitzen des Muttertieres; Garben, Akazienblüten, Fasane, ein Madonnenbild.
Wie Ziegelsteine schichtete er eins aufs andere, aber dazwischen blieben Fugen.
Durch sie sah er, aufgelöst in ein gespenstisches Gitter, abgebröckelte Steine, Stücke von Stäben, graue, leinene Striche, eine Haarsträhne, Finger und Augen.
Wieder stand diese Frau vor ihm. Er trat auf sie zu. Mit zitternden Händen löste er ihre Finger von den Eisenstäben. Sie waren kalt und feucht, als hätten sie in Wasser gelegen.
Als er den letzten Finger aufgebogen hatte, fiel die Frau hintenüber auf den festgetretenen Erdboden des Turmes. Die Stellung von Augen und Mund blieb unverändert.
Gerd presste sein Gesicht zwischen zwei Stäbe und starrte die Frau an: Sie war tot.
Ihr langes Haar schrumpfte plötzlich zusammen zu kurzgeschorenen, unregelmäßigen Haarbüscheln, stumpf schimmernd.
Er erkannte in ihr plötzlich diese Frau Blach, die in diesem alten Fachwerkhaus ihnen gegenüber gewohnt hatte.Die Tür zu ihrem Zimmer lag vier oder fünf Stufen höher. Darunter stand eine Holztreppe, unmittelbar vor dem Eingang zur Küche.
„Sie wohnen also auch hier“, hatte die Mutter gesagt.
„Ja“, hatte die Frau geantwortet, „mein Zimmer ist ein Loch. Kein Licht, der Ofen raucht. Mein Sohn ist im Irrenhaus. Manchmal besucht er mich. Dann will er mich immer
niederstechen.“
Die Mutter hatte nichts sagen können, so erschrocken war sie.
„Sie werden ja sehen“, hatte die Frau weiter gesprochen.
„Bald wird er wieder kommen. Ich bin ja so froh, dass Sie hier einziehen. Sie sind eine gute Frau. Das sehe ich. Und wenn ich um Hilfe rufe, dann kommen Sie, bitte.
Bis jetzt ist es immer gut gegangen. Ich habe mich in die Ecke hinter dem Ofen verkrochen.
Einmal hat er so nach mir stechen wollen, dass das Messer abgebrochen ist. Er ist damit auf die Ofenplatte gekommen. Er ist in einer Irrenanstalt, wissen Sie.“
Gerd hatte diese Frau gehasst. Wie hatten sie sich auf diese erste wirkliche Wohnung gefreut! Endlich wieder mehr als nur ein Zimmer!
Und nun hatten sie diese Frau Blach mit im Haus, die einen irren Sohn hatte, der seine Mutter neiderstechen wollte.
Noch mehr war sein Hass gestiegen, als die Mutter ihre Zeit und ihr Mitleid an diese Frau verschwendete, ihr Essen und Kohlen gab, ihr einen elektrischen Kocher lieh, den sie gegen Schnaps versetzte.
Dann, nach anderthalb Jahren, wenige Tage nach Neujahr, hatten sie nichts mehr gehört von dieser Frau, nicht, dass sie die Stufen hinaufging, nicht das Drehen des großen, schweren Schlüssels im Schloss, nicht das Verriegeln der Tür und nicht das Knarren und Ächzen der Metallbettstelle, wenn sie sich ins Bett legte.
Sie hatten überall nach ihr gesucht, bei Bekannten, bei ihrer Schwester, die eine Lumpenhandlung betrieb, und hatten sie nirgends gefunden.
Sie waren die vier oder fünf Stufen hinaufgestiegen und hatten an der Tür gerüttelt. Plötzlich hatten sie den Schlüssel auf den Fußboden fallen gehört.
Gerd war zur Kriminalpolizei gegangen.
Ein Mann hatte die Tür aufgebrochen. Gerd hatte an der offenen Küchentür gestanden und hinauf in das dunkle Zimmer gesehen.
Die Mutter war hinter dem Mann in die Kammer getreten.
„Sie ist tot“, hatte der Mann gesagt. Die Mutter war mit verstörtem Blick und blassem Gesicht die Stufen heruntergekommen, hatte sich an den Küchentisch gesetzt,
hatte sich an der Platte festgehalten und gesagt:
„Sie hat sich betrunken. Eine ganze Flasche. Im Eimer ist lauter Blut. Sie liegt quer über dem Bett. Sie muss schon lange tot sein. Die arme Frau.“
Gerd hatte gespürt, wie erleichtert er war. Er wusste nun, warum er die Frau gehasst hatte. In ihr waren Not und Elend zu einer Kreatur geworden. Und sie hatte von ihm – so fühlte es Gerd – die Zuwendung seiner Mutter abgezogen.
Sie musste vor ihnen dort eingezogen sein, damit sie nicht vergaßen, damit sie nicht zu glücklich wurden. Sie hatte sich vor ihnen in das Haus geschlichen und ihren lästigen Atem in ihre saubere Küche gestoßen, von einem ihrer Teller gegessen und ihren Kocher für Schnaps versetzt.
„Ich bin froh, dass sie tot ist“, hatte Gerd gesagt.
Die Mutter hatte ihn entsetzt angesehen:
„Aber Gerd, wie kannst du so etwas sagen! Hast du vergessen, wie schlecht es uns selbst gegangen ist? - “
„Nein! Ich habe es nicht vergessen! Und diese Frau Blach hat dafür gesorgt! Wie ein Gespenst ist sie hier ein- und ausgegangen, hat sich an unsere Sohlen geheftet. Ihr
Jammern, das hieß immer: Sehen Sie, so schlecht kann es einem gehen. Seien Sie froh, dass Sie wieder halbwegs untergekommen sind.“
Gerd hatte die Mutter dabei angesehen und bemerkt, dass sie ihm nicht mehr zuhörte.
„Was ist mit dir, Mutter?“ hatte er gesagt.
„Wenn ich mich mehr um die arme Frau gekümmert hätte, wäre sie jetzt nicht tot“, hatte die Mutter vor sich hin gesprochen.
„Auch das noch!“ hatte Gerd erwidert, hatte die Küchentür aufgerissen, war die Treppe hinuntergerannt, über den Kopfsteinpflasterhof gelaufen, hatte die Hoftür aufgerissen
und war ziellos umhergeirrt am Stadtrand, war an der Ruine der Stadtmauer entlang gegangen, bis er auf den alten Wehrturm gestoßen war.
„Sie hat sich zu Tode getrunken, die Hexe“, sagte Gerd.
Er hatte damals nicht früher in das Haus zurückkehren wollen, als bis die Frau fortgebracht war. Stundenlang war er am Rande des Steilhangs entlang gestreift und hatte hinuntergesehen in das breite Urstromtal.
Als es dämmerte, war er zurückgegangen. Eine dünne, grau schimmernde Schneedecke hatte im Tal gelegen. Als er sich dem Haus näherte, hatte er noch einen klapprigen Leichenwagen die Straße herunter holpern sehen.
‚Endlich‘, hatte er gedacht, ‚endlich sind wir dich los, du Schatten abgelebter Jahre.‘
Das herausgebrochene Schloss war nie wieder befestigt, die Tür mit Nägeln zugeschlagen worden. Die Holztreppe war irgendwo in einem Schuppen verschwunden.
Kommentare
Sehr interessante Geschichte, Walter. Ich kann das Kind, aber auch die Mutter verstehen.
Liebe Grüße,
Annelie
Danke, Annelie! War kein einfaches Thema.