Eine Begegnung, die mich nachdenklich machte

Bild zeigt Walter Zeis
von Walter Zeis

Auf meinen Spaziergängen treffe ich oft einen alten Herrn, der am Rande des Weges auf seinem Rollator sitzt und sich das Treiben auf dem schönen Spazierweg anschaut. Er ist 87 Jahre alt, kam vor 23 Jahren aus Kasachstan mit seiner Frau, die inzwischen verstorben ist, nach Deutschland. Er wohnt in einem großen Wohnblock, der hauptsächlich von älteren, meist alleinstehenden Menschen bewohnt ist. Ich war noch nie in seiner Wohnung, aber nach seiner Beschreibung ist sie angemessen, wenn nicht sogar großzügig, wenn man bedenkt, dass er sie nach dem Tod seiner Frau alleine bewohnt. Er versorgt sich noch selbst und macht insgesamt einen rüstigen und im Kopf klaren Eindruck. Er hat nie eine Schule besucht, sagt er. Er beklagt, dass er nicht richtig Russisch kann (hat ja bis zur Evakuierung Deutscher innerhalb der Sowjetunion nach Kasachstan) irgendwo in Russland gelebt und gearbeitet, aber auch nicht richtig Deutsch (dabei unterschätzt er sich, meine ich); was er wohl nach seinem Gefühl am besten kann, ist Kasachisch, womit er hier in Deutschland aber nichts anfangen kann. Sein kleiner „Wohlstand“ – ich benutze diesen Begriff bewusst, da er einen gepflegten Eindruck macht und so ziemlich alles hat, was man so in seinem Alter neben kassenärztlichen Leistungen braucht – ist durch staatliche Leistungen, die ihm beim Status eines aus Kasachstan kommenden Spätaussiedlers gewährt werden, gesichert. So weit, so gut.
Unser letztes Gespräch von „unterwegs“ nahm aber einen Verlauf, mit dem ich nie gerechnet hätte. Ich wusste zwar schon, dass er in mancher Hinsicht unzufrieden, ja dass er eigentlich unglücklich war. Nicht nur seine Frau war ihm weggestorben, sondern auch seine zwei Söhne, die einzigen Kinder. Eigentlich machte er den Eindruck eines Heimatlosen. Oft spricht er über eine wohl relativ gute Zeit in Russland, aber auch in Kasachstan. Dort hatte er wohl so etwas wie ein gewisses Heimatgefühl, er hatte Arbeit und an seinen Wohnorten ein Umfeld, in dem er sich nicht fremd fühlte, weil die Menschen in ethnisch gleich zusammengesetzten Gruppen jeweils für sich in Dörfern, Dorfgemeinschaften lebten. Deutschland ist ihm in den 23 Jahren, die er hier lebt, eigentlich fremd geblieben. Er geht auch seit 3 Jahren zu keinem Arzt mehr, weil er meint, sich eigentlich nicht hinreichend verständlich in der deutschen Sprache mitteilen zu können. – Der Verlauf des letzten Gespräches war für mich deshalb überraschend, weil es in gewisser Weise eine politische Wendung nahm. Dass er mit der deutschen Bürokratie (die ihm ja die ihm zustehenden finanziellen und sonstigen Leistungen/ Zuschüsse gewährt) nicht so ganz glücklich war, das wusste ich schon. Ich habe immer wieder versucht, ihm seinen Groll auszureden, ihn zu besänftigen, ihn aber auch auf seinen „kleinen Wohlstand“ hinzuweisen. Eigentlich machte ihn nur wütend, dass ihm die staatlichen Leistungen nicht ohne Regeln und einen gewissen verwaltungsmäßigen (ich scheue hier das Wort „bürokratischen“) Aufwand zuflossen. Zuletzt holte er ziemlich weit aus, sprach von Russland/ Sowjetunion als Diktatur. Eine scharfe Kurve kratzte er in dem Moment, als er vor dem Hintergrund, wie er sein Leben hier empfindet, sinngemäß, aber mit deutlicher Begrifflichkeit sagte: „Als ich in der Sowjetunion lebte, lebte ich in einer Diktatur, hier in Deutschland wieder in einer Diktatur.“ Dafür reichte sein vermeintlich unzureichendes Deutsch.
Es „klingelte“ mir in den Ohren. Ich dachte plötzlich an Pegida und an die AFD (Gauland: „Kanzlerdiktatur“), an die propagandistisch viel strapazierten Formeln, wie „die da oben“, Staatsferne vom Bürger „da unten“ usw. Meine Gedanken lösten sich immer mehr von diesem „Einzelfall“ und gerieten ins Allgemeine, ins Verallgemeinerbare. Z.B. kam mir der Gedanke: Wenn „die da oben“ fern sind von „denen da unten“, wovon sind dann „die da unten“ fern? Vielleicht vom Eingeständnis eines insgesamt gut funktionierenden Sozialstaates, von der Zurkenntnisnahme gesicherter Fakten, von Dankbarkeit, Geduld, Demut, von Erkenntnisfähigkeit, von Bescheidenheit oder dem Eingeständnis, dass jeder ein gutes Stück auch für seinen sozialen Status und den Zugriff auf Mitgestaltungsmöglichkeiten (mit) verantwortlich ist. Wir sind alle von irgend- etwas fern, was wir nicht beeinflussen können. Wenn wir Wohlstand haben wollen, müssen wir um die Spielregeln wissen, sie akzeptieren und sogar respektieren. Wir sind in einer weit verbreiteten Mentalität des Forderns, babyhafter Oralität angekommen. Anstrengende Lösungswege sind suspekt. „Jetzt gleich“ muss alles Geforderte passieren, gegeben werden. Und wenn das nicht passiert, werden „die da oben“ - vermeintlich berechtigterweise - beschimpft, verunglimpft. Das erinnert mich an die infantile Ungeduld eines (unwissenden) Babys, das schreit, wenn Brust oder Fläschchen nicht sofort bereit stehen, das „Gebührende“ zu gewähren.
So weit. So gut??

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