An jenem Tag, als wir unserem letzten Heimatort entgegen fuhren, schien die Sonne, und es war einer jener Sommertage, die sich vier bis sechs Wochen aneinanderreihen konnten, ohne dass ein Tropfen Regen fiel: Die Luft war warm und leicht, der Himmel blau, die Wolken weiß und leicht bewegt.
Die lehmigen Feldwege waren hart und spröde und von festgewordenen, tiefen Wagenspuren gezeichnet, eingefahren in Zeiten des Regens. Die Straße war staubig, aber nur wenig von dem Staub hob der Wind oder ein Pferdegespann mit seinem Wagen auf. Der Wind war eigentlich nur ein sanftes Bewegtsein der Luft, das schnell vom Staube ließ und auf das Feld hinüberglitt. Schloss ich die Augen ein wenig, so konnte es scheinen, als streife der Wind, indem er über das Ährenfeld hinweg glitt, aufgewellten Sand.
Die Felder lagen tiefer als die Straße, getrennt davon durch einen gut gepflegten Straßengraben und eine Reihe junger Obstbäume. Später erst, als ich den gleichen Weg wie an diesem Tage zu Fuß zur Schule ging, etwa fünf Kilometer, entdeckte ich reichlich sprudelnde, eisenhaltige Quellen mitten zwischen den Feldern. Darin bestand die Harmonie des Sommers, dass Juli und August diese Quellen nicht versickern ließen und die rotgebetteten schmalen Wassergräben nicht austrockneten.
Das letzte Stück Weg zwischen der Bahnstation und der sich aufwärts schlängelnden Serpentinenstraße ist mir besonders deutlich in Erinnerung geblieben: Von der Kutsche aus glitt der Blick über Getreidefelder und stieß im Halbkreis auf die Leiten, auf einen recht steilen, grasbewachsenen Hang, der mit Kirschbäumen bepflanzt war, sich links allmählich verlor und auf seiner rechten Seite von einer Bahnlinie durchschnitten wurde. Wie aus dem Mittelpunkt eines Kreises strebte die Straße dem Dorfe zu: Links am Hopfengarten und dem Pappelberg vorbei und rechts ein Stück entlang am Dorfteichufer. Von der Straße aus fiel der Blick, wenn er sich dem Dorf zuwandte, auf das steinerne zweistöckige Gutshaus, davor auf die kleine Dorfkapelle und abwärts den Weg auf die Terrassen des großen Gartens mit den Quellwasserbassins, dem Gerätehaus und dem Gartenhäuschen inmitten der obersten Blumenterrasse gleich neben der Gartentür.
Das Gefühl der Erwartung in mir war nach Kindesart empfänglich fürs Außergewöhnliche, fürs Abenteuerliche. Was Vater und Mutter dachten und empfanden, teilte ich nicht: Denn ich stand noch in der beglückenden Beziehungslosigkeit des Kindes, aus der heraus ich mich ohne die Frage nach der Zukunft von allem einfangen lassen konnte, was mich an Neuem, Weitem und Erregendem umgab. So eröffnete sich mir die gefährliche Serpentine, der von Quellen ausgespülte jähe Abhang zum Teich, das graue majestätische Gutsgebäude und vor allem der Hof mit seinen Pferden, Ochsen, mit den gähnenden Scheunentoren und mit Vaters Kanzlei, an der wir vorbeigehen mussten, wollten wir hinauf zur Wohnung.
Wir richteten uns ein im altehrwürdigen Haus. Fenster an Fenster reihte sich in der großen Küche. Im Kreis durchlief ich die vier Zimmer: Wohnzimmer, Schlafzimmer, Speisezimmer, Gastzimmer. Wie seltsam war der große, weißgekachelte Herd, fest gemauert, wuchtig und mit vielen schwarzglänzenden Türen versehen!
Vater richtete seine Kanzlei ein: Geradeaus gegenüber der Tür war ein Fenster hinaus zur Kapelle, übereck eins mit dem Blick die Dorfstraße hinunter, die sich unterhalb des Transformatorenhäuschens in der Serpentine verfing. Vor diesem Fenster stand Vaters Schreibtisch, auf dem mich am meisten der Stempel mit seinem Namenszug beeindruckte. Schreibtisch und Aktenschränke standen etwas höher auf einem Podium, das fast zwei Drittel des Raumes einnahm. Es knarrte, wenn Vater mit seinen Stiefeln darüber ging.
Lenkte Vater seinen zweirädrigen wendigen Einspänner oder stand er, auf seinen Spazierstock gestützt, am Feldrand oder an der Dreschmaschine, oder stach er mit der Eisenspitze an seinem Stock in die großen lehmigen Ackerschollen, die der Dampfpflug zurückgelassen hatte, hätte niemand geglaubt, dass er aus einem kleinen angesehenen städtischen Kaufmannshaus stammte, in dem er als einziger Sohn dem Vater seinen Berufswunsch abgetrotzt hatte. Vater war eher klein von Statur, schmal im Gesicht und hoch über der Stirn setzte das dunkle glattgekämmte Haar an. So entsprach er äußerlich ganz und gar nicht der Vorstellung, die man von einem Landwirt haben mag. Und doch: Er setzte auf einem Umweg über einige Generationen die vorväterliche Tradition der Landwirte fort.
An der Weise, wie Vater an alles seinen Maßstab legte, konnte man erkennen, dass es die Tatkraft eines erfüllten Wunsches war, die da unermüdlich wirkte. Überall war sein klarer und praktischer Sinn zu spüren. Bald standen die Ackerwagen am Hofe in Reih und Glied, die Ställe waren geweißt, jeden Samstag der Hof gekehrt, die Pferdegeschirre blitzten, der Dunghaufen war winklig und gerade, die Blitzableiterkugeln erneuert, die Pferde gestriegelt und gebürstet, und ganz allmählich wurden die Felder sinnvoller bestellt und ertragreicher. Schmied und Wagner bekamen Arbeit, in den langen Leitern der Getreidewagen blitzten neue Speichen aus Akazienholz, ebenso in den Rädern - die Ränder der eisernen Reifen waren noch bläulich vom Schmiedefeuer. Die frischen Beschläge der Wagendeichseln und Fahrgestelle waren schwarz lackiert, und wo die Eisen besonders gut sitzen mussten, waren sie glühend aufgebrannt worden. Lange noch sah man die Brennspuren auf dem gelblich-grünen elastischen Akazienholz. Am Samstag zogen die Kutscher die Geschirre über die Deichseln und putzten Leder und Messing. Der jüngste Kutscher, ein 17- oder 18-jähriger Bursche, führte ein Gespann schwerer Belgier mit gestutztem Schwanz. Sein besonderer Stolz war es, dass er das Gespann mit dem Stoßzügel lenken konnte. Es waren schwere, aber temperamentvolle Pferde. Sie zu beobachten, wenn sie fast auf den Knien unter den anfeuernden Rufen des Burschen eine Dreschgarnitur aus ihrer wochenlangen Stellung zogen, war ein großer Augenblick.
Den Sommer hindurch trieb ein alter Hirte, der zuvor Jahrzehnte Pferdegespanne geführt hatte, die Kühe, Kalbinnen und Kälber hinaus, einen Weg zwischen Hecken entlang, hinter denen sich zu beiden Seiten ein großes Kleefeld erstreckte.
Das Viel weidete draußen in dem kleinen Akazienwäldchen, auf dessen Boden üppiges zartes Gras wuchs. In den Sommerferien, wenn die Champignons kamen, mussten wir der Herde voraus sein, um schnell die bekannten Stellen nach den saftigen großen Pilzen abzusuchen. Hinter dem Vieh her zog ein Ochse einen Wagen mit einem Fass voll Wasser, das der Hirte den Tag über in eine Holzrinne laufen ließ, damit das Vieh etwas zu trinken hatte. Barfuß durften wir nicht über den Waldboden laufen, so wie wir es im August auf den Stoppelfeldern taten. Zu viele trockene dornige Akazienzweige waren darauf verstreut.
Die gelbgescheckten Ochsen waren zwar langsam und weder durch Zuruf noch durch einen Peitschenschlag merklich anzutreiben, doch waren sie unentbehrlich auf dem schweren Boden, wenn besonders tief gepflügt werden musste. Jedes Paar Ochsen hatte seinen festen Gespannführer – es waren ältere Männer, selbst schon etwas behäbig geworden, vielleicht auch etwas müde, aber vertraut mit der Erde und zuverlässig.
Ein Ochse, erinnere ich mich, genoss eine Sonderstellung. Er musste den Alleingang gewohnt sein und musste es sich gefallen lassen, dass er tagelang ein knatterndes und fauchendes Ungeheuer hinter sich herziehen musste, das zwar zum Selbstfahren eingerichtet war, aber versagte, wenn es auf der feuchten klebringen Erde inmitten des Hopfengartens vorankommen sollten. Es war diese seltsame Hopfenspritze, mit der Vater Jahr für Jahr der Roten Blattlaus den Garaus machte. Eine besondere Gabe der Natur zeichnete diesen einen Ochsen aus: seine Hörner waren im Gegensatz zu denen der anderen Ochsen ganz rund heraus aus dem Schädel und kreisförmig wieder zurück gewachsen. So streifte er nur die aufwärts wachsenden Hopfenreben und konnte den feinen Draht nicht durchreißen, an dem sie sich emporrankten. Sein Gespanngefährte indessen ruhte im Stall aus.
War die Hopfenernte herangekommen, die Baracke mit den Hopfenpflückern belegt, die jährlich zur Saison kamen, dann war das für die Landschaft die große und auch traurige Zeit. Die Erde gab ihr Bestes: große zartgrüne Hopfendolden von würzigem Duft und fast so groß wie ein Kiefernzapfen. Jahr für Jahr vollzog sich dasselbe Wunder: Bis zum Herbst wuchsen regelmäßig hohe, rechteckige Wäldchen von Hopfenreben heran, die dann Zug um Zug in sich zusammenfielen, wenn der Draht vom Pflücker durchrissen wurde. Kahle Masten und Drähte, ein leeres rechteckiges oder quadratisches Netzgeviert blieb und zerschnitt das Grau des herbstlichen Himmels in unzählige Felder: ein riesiges vergilbtes Spielbrett, auf dem die Krähen saßen. - Solange aber unter dem Geflecht des dicken tragenden Drahtes emsig gepflückt wurde, sprach niemand vom Herbst. Ein fast hektischer Betrieb herrschte im Hopfengarten. Zwischen drei nach oben zusammenlaufenden Stangen hing der Sack für den frisch gepflückten Hopfen. Daneben stand ein großer flacher Blechbehälter, in dem sich das Maß für den Hopfen befand. War es gefüllt, bekamen Pflücker und Pflückerin ein 'Blechl'. Es verschwand in einem um den Hals getragenen kleinen Beutel, um am gleichen Tag, wenn es Feierabend geworden war, unter Vaters Aufsicht in bares Geld getauscht zu werden.
Jeden Tag saß ich auf dem Plateauwagen, der oft am Tag hin- und herfahren musste zwischen Hopfengarten und Hopfendarre. Was war das für eine geheimnisvolle Welt, diese Darre, in der die Dolden so federleicht wurden, das man eine Handvoll kaum spürte! Was für ein herber Duft! Stockwerk für Stockwerk kam der Hopfen näher an die Hitze, bis er auf großen Schütten herausgezogen wurde. Über einen Steg von Haus zu Haus trugen zwei Männer den Hopfen hinüber, wo die Dolden wenig später von einem Mann in Riesensäcke, Ziechen genannt, gestampft wurden. Gelber, würziger Staub lag auf dem Sack, den er sich über den Kopf gezogen hatte. Hart waren die Ballen, wenn sie, aus der Öffnung im Fußboden gelöst, in die untere Etage fielen und dort vernäht und gekennzeichnet wurden.
Die Rüben und die späten Kartoffeln wurden schon im diesigen Grau des Oktober- und Novembernebels geerntet, und auf den Wagen standen, wenn sie hinausfuhren, Kannen mit heißem Kaffee. Der Frost war über dem Boden schon da, und er bannte zum Morgen den Nebel auf das Rübenblatt, die beladenen Wagen, die Kanten der aufgeackerten Schollen und die Nüstern der Pferde. Die Feldwege waren nass und lehmig, zerfahren von den Kastenwagen mit den Rüben und leicht gehärtet die Furchen schon gegen Abend. Im Stall und in der Stube war es warm, deutlicher als im Sommer war das Blöken der Rinder zu hören. Mutwillig schlugen die Pferde an die Planken und Balken, wenn sie den letzten Dung auf die oft schon zart verschneiten Felder gefahren hatten.
Irgendwo in einer geschützten Ecke wurden Akazienstämme zersägt und zerkeilt, die über den Schnee von den zwei Belgiern an Ketten vom Busch hereingezogen worden waren. Oft kreuzte ich die Spuren der Stämme, wenn ich Späne und Scheite holte, um sie in die große Öffnung am Küchenherd zum Trocknen zu legen. Bald roch die Küche nach dem verfliegenden Saft aus dem Holz der Akazien.
Und so rundete sich das Jahr und eines Tages das letzte dort.
Verloren, erinnert
von Walter Zeis
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