Getragen von Minuten ward ein Held - Minutenheld - Page 2

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von Monika Laakes

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der kleine Mann.
Tumult in der Passage. Menschen rannten, Taschen über den Kopf haltend, rempelnd, keuchend. Der Bahnbeamte war verschwunden.
Der kleine Mann hatte feuchte Hände. Er saß bewegungslos in seine Polster gedrückt. Hatte er jemals die Menschen geliebt? Wurde er jemals geliebt? Lohnt sich hier und jetzt der Einsatz seines Lebens? All die wirren Gedanken steckten unformuliert, instinktiv in seinem Schädel. Er rannte in Richtung Ausgang, machte kehrt und setzte die Hetze fort, um den Schalter zu erreichen.
War die Türe nicht verschlossen? Ja, er hatte genau gesehen, wie der Beamte den Schlüssel umgedreht hatte, sorgsam und argwöhnisch. Die Polster wurden plötzlich steinhart. Der Po tat weh. Der junge Mann ballte die Hände zu Fäusten.
Er schrie atemlos, schwach, im Luftholen sich stärkend. Er schrie unentwegt.
„Bombenalaaaaarm!“
Er trat gegen die geschlossene Türe des Schalterraums. Die Glastüre vibrierte. Indessen hörte er von Fern das Anschwellen eines Sirenentons. Kam näher, wurde schrill. Dann eine Lautsprecherdurchsage:
„Bitte räumen Sie sofort das Bahnhofsgelände. Bitte räumen Sie sofort das Bahnhofsgelände. Es besteht Bombenalarm!“
Der kleine Mann sah hochrote Gesichter von eilenden Passanten, die auf der zu den Bahngleisen führenden Treppe mit ihrem Gleichgewicht kämpften. Eins, zwei, drei, vier, fünf.
In so einem Moment zählt nicht einmal ein Kind die vielen Treppenstufen. In so einem Moment sind sie so quälend zahlreich wie die jener Pyramiden, auf denen man nur bis zur Mitte vordringt, sich umdreht und sofort hinhockt, um nicht in Panik zu geraten. Der kleine Mann hatte inzwischen das Gefühl, bei einem Marathonlauf mitzumachen. Noch einmal all seine Kraft aufwenden, nochmal zu einem Endspurt ansetzen. nochmal die weichen Knie bezwingen.
Die Luft außerhalb der Passage unter freiem Himmel, inmitten einer Menschenmenge, die ihn aufsaugte, die Luft war knapp und reichte nicht, durch die Enge seines Brustkorbs zur Lunge vorzudringen. Stoßweise zwang er sie in sich hinein. Der kleine Mann schlängelte sich an widerspenstigen Körpern vorbei, um sich der Polizeimannschaft als Initiator und Leiter dieser Rettungsaktion vorzustellen.
„Hier bin ich!“ schrie er vor dem Mannschaftswagen stehend durch das geöffnete Fenster zu dem Fahrer hinauf.
„Was wollen Sie? Bitte stören Sie nicht den Verlauf dieser Rettungsaktion. Bitte gehen Sie weiter“, wurde er aufgefordert.
„Aber ich bin’s. Ich bin derjenige, der den Sack entdeckt hat. Ich bin der, der den Beamten gerufen hat. Ohne mich wäre niemand gewarnt worden!“ empörte sich der kleine Mann.
„Ja, dann kommen Sie mal rein“, forderte der Uniformierte ihn auf und öffnete die Schiebetüre.
So bestieg der kleine Mann den Wagen und sank erschöpft in die Polster.
Aufnahme der Personalien. Protokoll über den Hergang der Begebenheit. Beschreibung der drei davoneilenden Männer, wie sie der normale Beobachter zu liefern versteht.
Ach, wie der kleine, junge Mann mit seiner Erinnerung zu kämpfen hatte. Wie die große Leinwand ihn gefangen nahm und zugleich erdrückte. Wie er Sequenzen miteinander vermischte. Wie er nach einem Taschentuch in der Hosentasche suchte. Wie er seine Schlampigkeit verfluchte, denn er wischte nicht gerne seine Nase an dem Hemdsärmel ab. Wie er sich vornahm, immer ein Taschentuch einzustecken. Wie er seine brennenden Augen rieb, um den Verlauf des Films zu verfolgen. Der kleine Mann hatte so viel Dankbarkeit in seinem Bauch. Und daraus erwuchs so viel Freundlichkeit für alles, was ihn umgab. Endlich wurde er bemerkt, endlich legte ein Fremder seinen Arm um seine Schultern. Endlich ehrte ihn einer, der die Stimme erhob, verstärkt durch den Lautsprecher, um den Helden zu feiern. Um die Menschen in Jubel ausbrechen zu lassen. Um Dankbarkeit zu zollen diesem kleinen, unscheinbaren Mann.
„Und hier eine Durchsage. Wir alle möchten uns bedanken bei diesem Herrn, der hier neben mir im Mannschaftswagen sitzt. Er ist derjenige, welcher den Bombenalarm auslöste. Er ist derjenige, der uns vor dem Unglück bewahrt hat. Wir bedanken uns!“
Jubel. Klatschen und Pfeifen. Selige Minuten lang.
Im Gebäude hingegen hatten Spezialisten die Bombe entschärft und die beigefügten Chemikalien wegtransportiert.
Die verhinderte Katastrophe wurde in allen Einzelheiten in der Abendausgabe und der darauffolgenden morgendlichen Zeitung beschrieben. Ein Foto unseres Helden zeigte ein erschöpftes Gesicht mit wirrem Haar und scharfen Nasobialfalten. Grau, zwischen Zeilen aus Druckerschwärze.
Er war fünfzehneinhalb, so um die einsdreiundfünfzig groß und hatte dunkles, am Hinterkopf gekräuseltes Haar und zudem eine außergewöhnlich lange Nase.
Erfolg- und freudlos war sein Leben zerronnen. Noch vor ungefähr drei Stunden hatte er an der Brieftasche seines Vaters herumgenestelt, um einen Fünfzigeuroschein herauszufischen. Das gewährte er sich ab und zu, weil er sich eine Freude machen wollte. Niemand sonst kam auf die Idee, ihn froh zu machen. Manchmal glaubte er sogar, seine Eltern hätten es versäumt, sich vor seiner Geburt von ihm zu befreien. So hatte er beizeiten sein Wachstum eingestellt, und auch seine Stimme glich der eines heiseren, kraftlosen Greises.
Um all diese Misslichkeiten zu vergessen, machte er sich ab und zu auf den Weg ins Kino. Und dort fand er sich im Mittelpunkt des Geschehens wieder.
Und heute war es ihm wie nie zuvor. Er atmete Weite. Er war frei. Hatte plötzlich Überblick, Weitblick, Einblick, Ausblick. Hatte die Leichtigkeit des Lachens.
Der junge Mann wirbelte, tanzte, und sein Kopf verwandelte sich in ein Riesenorchester. Jede neue Schwingung eines Tons trug ihn mal hoch, mal nieder und wieder hoch. Er hatte nichts anderes zu tun, als sich tragen zu lassen. Je höher der Ton, desto gleißender wurde das Licht. Die tiefen Töne erinnerten an das Braun der Erde. Und wieder über Ocker, Orange, Grellrot jagte ein Ton den anderen hinauf. Hinauf.
Im Verglühen sich zu befreien, das fühlte und wünschte der junge Mann. So schmächtig. Mit durchnässter, schäbiger Kordjacke lief er durch das Zentrum einer Stadt von ca. 280.000 Einwohnern. Schnurgerade, wie von einem Lineal gezogen. Und jeder, der ihm entgegenkam, musste, um nicht zu kollidieren, rasch zur Seite ausweichen. Jetzt hatten seine Augen das Grau eines vom Sturm aufgewühlten Flusses. Zielbewusst lief er zur nahegelegenen Brücke, deren Beleuchtung sich wie eine Perlenschnur darüber hinzog. Der Wind trug eine Eiseskälte vom Fluss über die Brücke und ließ die Gesichter zu Masken erstarren. Der junge Mann fühlte die magische Anziehung des Wassers, denn es tanzte und wirbelte und machte träumen.
Er zog seine Kordjacke aus. Er fischte einen Block hervor, legte ihn auf das Geländer der Brücke und schrieb. Er schaute mehrmals auf, drehte sich in Richtung City, schluckte mit seinen Augen das Licht, die Silhouetten der Passanten. Kaute am Stift. Schrieb erneut. Dann legte er den Zettel behutsam in seine Brieftasche, die er auf die Kordjacke legte. Dazu seine Geldbörse mit genau fünfunddreißig Euro. Dann stieg er auf das Brückengeländer und sang lauthals:
„I am a Hero!“
Dann schien es, als würde der junge Mann einen kurzen Moment vom Wind getragen, als er jubelnd von der Brücke flog.
Augenzeugen berichteten, es wäre alles blitzschnell gegangen. Niemand hätte ihn festhalten können. Der junge Mann hätte noch lauthals gesungen. Und dann wäre er von der Brücke gewirbelt worden vom Sturm. Er müsse wohl arg betrunken gewesen sein oder eventuell sogar mit Drogen vollgedröhnt. Jedenfalls sei es kein Selbstmord gewesen, denn ein so fröhlicher Mensch könne nicht freiwillig in den Tod gegangen sein.
Alles Suchen blieb erfolglos. Obschon die Mannschaft der Rettungsschwimmer mit Tauchausrüstungen den Flussgrund unter der Brücke abgrasten und außerdem sehr sorgfältig mit langen Stangen weite Strecken des Flusses Meter für Meter vom Boot aus durchstocherten. Mit der Erfahrung von jenen Hilfs- und Rettungsdiensten unserer Stadt.
In der Brieftasche auf der Kordjacke auf der Brücke über dem Fluss fand man neben dem Personalausweis und der Kinokarte den kleinen Zettel mit folgendem Text:

Ich
schneide ein Stück Zeit ab,
male sie an
mit goldenen Farben.
Stelle mich in den Glanz
und spüre Unsterblichkeit.
Ich
schneide Minuten.
Minuten
für den Minutenheld.

Ich
tanze schwerelos.
Angst und Sorgen werden verbannt.
Ein Hauch
löst sich von der unendlichen Zeit,
streift vorbei
und berührt mich.
Getragen von Minuten
ward ein Held.
Ich,
der Minutenheld.

Jenes Gedicht wurde in dem Zeitungsartikel wegen seiner Poesie erwähnt und auf der nächsten Seite vollständig abgedruckt, hervorgehoben durch Fettschrift und eingerahmt zum Gedenken eines leichtsinnigen jungen Mannes.
Die Wochen darauf fand man auf mehreren Plakatwänden, an verschiedenen Plätzen über die Stadt verteilt dieses Gedicht. Mit gelber Leuchtschrift überdeckte es die schönen, Zigaretten-tragenden Lippen von Männern, die an Cabriolets gelehnt junge Frauen in ihren Armen halten. Wo Pferd und Reiter zu einer Einheit verschmelzen, prangte die Schrift auf den Köpfen und Körpern der Männer. Graffittikunst in Gelb, Rot, Schwarz und dazwischen Buchstaben, Zeilen, Sätze. Manchmal als Ratespiel über mehrere Plakate, Litfaßsäulen und Mauern verteilt. Fragmente. Spuren eines Dürstenden.

Im Angebot die Poesie der Freiheit. Und die Freiheit der Poesie.

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