Noch eine andere Erinnerung habe ich an den amerikanischen Markt und seine Buden.
Als große Schwester musste ich zusammen mit den Kleinen auf den Jahrmarkt gehen. „Ischa Frrreimaaak!“, war die Devise. Südlich des Weißwurscht-Äquators könnte man das eventuell nicht verstehen – es heißt: „Ist ja Freimarkt!“, so wurde das anderweitig "Kirmes" geheißene, zweimal jährlich stattfindende Vergnügen genannt. Und in den zehn Tagen strömte alles, was konnte, in diese glitzerbunte Scheinwelt für alle jene, die dort nicht arbeiten müssen. Und hoffentlich strömten Viele – für alle, die dort ihren Arbeitsplatz hatten.
Da fällt mir schon wieder etwas ein … Nein, zuerst erzähle ich das mit dem amerikanischen Markt!
Also:
Ich war also mit meinen Geschwistern auf dem deutschen Markt unterwegs. Das mittlere Kind, meine Schwester, ging neben mir an der Hand. Mein kleiner Bruder wurde selig in der Sportkarre von Staunelicht zu Staunelicht gefahren, in Kinder-Karussells gesetzt und konnte nur mit Mühe davon abgehalten werden, sich das Meerschweinchen selber einzufangen, das auf ständiger Futtersuche von Häuschen zu Häuschen in die offenen Eingänge des temporären Rundbaus lief und so Gewinner ermittelte.
Ja, und dann kam mein persönliches Highlight: Der amerikanische Markt, unsere obligatorische letzte Runde, bevor es mit Erdbeereis wieder nach Hause ging. Dieses Mal machte ich auch Halt an der amerikanischen Version von Schießbude.
Was auf der deutschen Seite grellbunt überhäuft und lautstark „musikalisch“ auf sich aufmerksam machte, fiel dort sehr viel bescheidener aus. Kein Schnickschnack, alles sehr puristisch in korrektem Tarngrün und Khaki gehalten, keine Stoffblumen zu gewinnen, nur die angeschossene Zielscheibe bekam man am Ende in die Hand gedrückt.
Aber worauf es ankam, war ja das Schießen und das vorherige Zielen! Und dazu hatte ich schon lange Lust gehabt. Auf dem deutschen Markt gab es nur Gewehre. Außerdem sah man da nur Männer den Abzug betätigen. Ich als noch-nicht-so-ganz-Frau sah da für mich gar keine Chance.
Hier aber gab es etwas größere Pistolen (wer sich da auskennt, lache bitte nicht, ich Frau, ich nix "Technik"!), also nichts, was einen schweren, langen Lauf hatte, den man nicht zitterfrei lange hochhalten konnte. Schwer waren die aber auch.
Der nette junge Soldat mit (politisch korrekt) stärker pigmentierter Hautoberfläche gab mir das Ziel- und Schießgerät in die Hand, nachdem er mir gezeigt hatte, welche Handgriffe nötig waren. Dann zeigte er mir die auf meiner gegenüberliegenden Bretterwandseite angebrachte metallene Haltevorrichtung, in die er von oben eine neue cremefarbene Karte mit einem schwarzen mittleren Kreis in konzentrischen Ringen einschob, stellte sich mutig etwas daneben und gab mir mein Einsatzzeichen.
Ich hob die Waffe wie gesehen, legte an wie mir vorgemacht, zielte auf das Gezeigte und schoss.
Im Bruchteil einer Sekunde war Hektik, alles überstürzte sich. "Mein" Soldat und sein weißer Kollege nahmen Deckung, der weiße warf sich einfach auf den Boden, der andere in einem Hechtsprung auf mich zu, beide riefen etwas, meine kleine Schwester neben mir fing schlagartig an zu weinen und ringsum sah ich vor Schreck geweitete Augen bei Personal und Besuchern der Nachbarbuden.
In der Folgesekunde „fror“ für mich die ganze Szenerie ein.
„Mein“ Soldat war inzwischen mit einem Satz über die tresenartig nach außen abgeklappte Seitenwand gesprungen, und während er unaufhörlich Unverständliches auf mich einredete, nahm er mir die Waffe wieder ab. Alles andere ringsum setzte sich schleichend langsam wieder in Bewegung, meine Schwester weinte immer noch und ich verstand überhaupt nichts mehr.
Es stellte sich raus, dass ich mit der ersten „Kugel“ (Luftgewehrmunition) den metallenen Rahmen der wie ein Bilderrahmen dort angebrachten Halterung der Zielscheibe getroffen hatte, woraufhin der Querschläger erst eine wiederum metallene Verstrebung links (weißer Kollege) touchiert hatte (und dadurch erheblich an Geschwindigkeit und Kraft verloren – Gott-sei-Dank!) und sich dann die linke Schläfe meiner Schwester ausgesucht hatte, von der sie regelrecht abgetropft war, neben sie auf den Schotterboden.
Meine Schwester hatte nur leicht und nur oberflächlich geblutet, aber der Soldat war unglaublich besorgt um uns (wahrscheinlich auch um sich, denn er hatte ja die Aufsichtspflicht). Er beugte sich zu meiner Schwester hinunter, streichelte sie, sprach auf sie ein, erklärte dem Kollegen gesten- und wortreich etwas – und dann machte er eine Riesenrunde mit uns Dreien, meine Schwester auf seinen Schultern über allem thronend, über den ganzen deutschen Jahrmarkt, den wir eigentlich schon absolviert hatten.
Immer wieder sah er nach meiner Schwester, herzte und streichelte sie (was ihr sehr gut gefiel - sie war unbestrittener Mittelpunkt) und war richtig glücklich, dass ihr nichts weiter fehlte. Alles hatten wir frei und alles auf seine Kosten. DAS war mal ein Jahrmarktsbesuch!
Was da eigentlich hätte passieren können – das war mir ernsthaft zu diesem Zeitpunkt nicht klar, ganz wirklich nicht. Es WAR ja nichts weiter passiert, es blutete nicht mal mehr. Mein kleiner Bruder war noch zu klein, überhaupt etwas mitbekommen zu haben. Und meine Schwester und ich hatten ab sofort ein Geheimnis.
Wahrscheinlich wohl habe ich das Leben meiner Schwester durch diese Begegnung mit dem so zugewandten dunkelhäutigen Soldaten in bestimmte Bahnen gelenkt. So jedenfalls habe ich mir später den Umstand erklärt, dass dunkelhäutige Uniformträger bei ihr einen Stein im Brett zu haben schienen. Sie hat später sogar einen geheiratet und mit ihm zwei wunderschöne Töchter, eine davon mein Patenkind.
Aber das wäre jetzt noch eine andere Geschichte und auch nicht mehr meine.
noé/2014