Frau Kirchhöffer kommt mir in den Sinn.
In welchem Zusammenhang? Das sind verschlungene Gedankenwege …
Wer kennt sie nicht, die großen, dunklen Kinderaugen, die einen besonders vor wichtigen kirchlichen Festen aus dem Fernseher anstarren, über ihren stockdürren Ärmchen und den hungergeblähten Bäuchen, dazu der salbungsvolle Sprech aus professionellem Mund, der mit seinem geschulten Timbre die Mitleidsmasche herunterleiert? Und gerne auch zu den gängigen westlichen Essenszeiten, damit einem der Bissen im Halse stecken bleibt.
Das wird nur noch übertroffen von den fröhlichen jungen Frauen, die mir genau dann, wenn ich von der Pizza abbeiße, erklären, wie weich ihr Stuhlgang geworden ist, seit sie Mittel A verwenden, oder die plastisch verdeutlichen, wie viel Blutersatzflüssigkeit ihre Binde B oder ihr körpergerechter Tampon C aufzufangen imstande ist, ohne sie auslaufen zu lassen. Aber das nur nebenbei.
Ich bezweifle, dass diese uns über Jahre immer selben hungernden Kinder“modelle“ je auch nur einen Cent Tantiemen für ihr Modellverhungern erhalten haben oder werden, wie ich auch bezweifle, dass viel dem uns aus den Rippen geleierten Euronen bei eben jenen armen Kindern ankommt, um sie vor dem Hungertode zu retten, wenn man sich einmal vor Augen führt, was ein solches Bettelvideo gekostet haben mag in seiner professionellen Erstellung – und wenn man dann noch die Kosten für auch nur eine Ausstrahlungsminute dagegenhält. Das – und der Berufssprecher – muss ja auch noch alles bezahlt werden … und natürlich von den eingehenden „Spenden“-Geldern. Mal ganz abgesehen von den Verwaltungskosten und den Kosten für die Erstellung „repräsentativer“ Bauten.
Früher lief das unter „Betteln und Hausieren“ und man konnte sich dagegen wappnen, indem man ein entsprechendes „Verboten“-Schild außen an der Haustüre anbrachte. Das mal beachtet wurde und mal nicht – Schwamm drüber. Heute sind die Haustüren genau so zu und fest verschlossen wie die Herzen.
Denn ich bin ja gar nicht gegen das Spenden an sich, einiges auf diesem Gebiet mindert jährlich meine Steuer-„schuld“ und wird auf diese Weise freigesetzt für das kommende Spendenjahr. Und ebenso beim Einkaufen lasse ich ständig „aufrunden“ dort, wo es mir möglich gemacht wird. Kleinvieh macht ja auch eine Menge Mist.
Aber wie war das „früher“?
Ich erinnere mich gut, dass damals innerhalb der Kirchengemeinden an das altruistische Herz einer gewissen Altersgruppe appelliert wurde, zu der ich auch irgendwann einmal gehörte. Das war die Zeit, wo ich ernsthaft daran dachte, Albert Schweitzer bei den kleinen Negerkindern im Dschungel zu helfen, wenn ich erst einmal „groß genug“ dazu wäre.
An den eben verwendeten Vokabeln kann man unschwer erkennen, wie lange das wohl her sein muss, denn einiges davon ist heute nicht mehr politisch korrekt.
Aber wie ging das nun vor sich, und was hat Frau Kirchhöffer damit zu tun?
Zu der damaligen Zeit herrschte kein Mangel an Kindern, die bereitwillig mit Spendenbüchsen und mit Sammellisten die Hauseingänge enterten, um – im Dachgeschoß angefangen – an jeder Haustür zu klingeln und um Spenden für dies oder das zu betteln. Uns kam das nicht wie Betteln vor, wir waren erfüllt von unserer jeweiligen „Mission“ in heiligem Auftrag. Ich jedenfalls habe sehr akribisch mein Einsatzgebiet abgegrast und stets etliches zusammenbekommen. Auch manche skurrile Erfahrung habe ich gemacht. Ein Mann in Unterhemd und Trainingshose ließ mich geduldig mein ganzes Repertoire abspulen, und ich hoffte schon auf 50 Pfennig oder vielleicht sogar ein ganze Mark! (oben auf der Spendenliste hatte sich schon jemand ganz spendenfördernd mit 5 Mark eingetragen …), da musste ich, bevor die Tür sich vor meiner Nase schloss, folgenden Spruch anhören, den ich – offensichtlich – bis heute nicht vergessen habe: „Ich kann mich auch auf den Kopf stellen und mit den Beinen wackeln. Ich kann mir auch ein Loch in die Kniescheibe bohren und einen Blumenstrauß reinstecken!“
Wenn man sich das mal vor Augen führt: Aus heutiger Sicht war die ganze Unternehmung ein absolutes No-Go. Alleine schon mal, aus datenschutzrechtlichen Gründen, potenziellen Spendern die Liste der bisherigen Spender vor die Nase zu halten, um neue Spenden zu generieren! Und spätestens beim Unterschreiben konnten sie ja sehen, was Frau Meier aus der 14 gespendet hat.
Aber auch, was die Sicherheit der kleinen Sammler angeht. Waren die Zeiten damals wirklich so anders, dass man sie sorg- und schutzlos in die seltsamsten Häuser schicken konnte? Was wäre denn gewesen, wenn ihnen dabei etwas passiert wäre? Wie viel von dem, was vielleicht wirklich passiert ist, hat niemand jemals erfahren?
Ich selbst wurde zu einem anderen Zeitpunkt von einem Mann angesprochen, der mich bat, in den vierten Stock eines Hauses ein Paket zu liefern, ob ich wohl so nett wäre? Ich war in Mathe nie besonders gut, aber ich konnte bis drei zählen, und das besagte Haus hatte nur drei Stockwerke. Also lief ich vor ihm weg und schrie dabei die ganze Zeit lautstark „Mitschnacker! Mitschnacker!“, was eigentlich selbsterklärend ist und aus dem Norddeutschen so viel wie heute „Kinderschänder“ bedeutet. Aber etwas, das man daraus ableiten kann, hätte mir durchaus auch bei Sammelaktionen innerhalb eines solchen Hauses passieren können.
Nun zu Frau Kirchhöffer, die mir einfach nicht aus dem Kopf gehen will.
Auf einer meiner Sammeltouren war ich auch vor ihrer Tür gelandet. Sie sollte die letzte Anlaufstelle für diesen Tag sein. Eine kleine alte Lady öffnete mir die Tür und hörte mir aufmerksam zu. Dann holte sie ihre Geldbörse, hielt sie mir hin und sagte: „Such dir ein Fünfzigpfennigstück raus.“ Verwundert tat ich es und gab ihr ihre Börse zurück. „Zeig mal“, sagte sie und ließ ihren Fingernagel entlang des geriffelten Randes der Münze streifen. Dann meinte sie: „Gut. Weißt du, ich bin nämlich blind. Magst du nicht hereinkommen?“ Daraus hat sich eine Art von zugewandter Freundschaft entwickelt zwischen der blinden vertrauensvollen Übersiebzigjährigen und der sich durch dieses Vertrauen geadelt fühlenden Zwölfjährigen. Wir haben uns öfter bei ihr unter dem Dach getroffen, ich habe Kleinigkeiten für sie eingekauft und sie hat mich an ihrer ostfriesischen Teezeremonie teilhaben lassen. So etwas kann eben auch erwachsen aus dem direkten Kontakt, und ohne dieses Sammeln wären wir uns nie auf einer solchen Ebene begegnet.
Jahrzehnte später sollte übrigens meine Tochter ebenfalls kirchlicherseits zum Sammeln rekrutiert werden. In einer anderen Stadt, in einer anderen Kirche, die uns keinen Fuß in die Türe setzen ließ, was das Vereinswesen anging, wie sehr wir es auch versuchten.
Aber als meine Tochter in das Alter kam, an dem die Kommunionsvorbereitung begann, erzählte sie mir irgendwann, dass die Kommunionkinder des Jahrganges – wie wohl die in jedem Jahr – sonntags mit der Sammelbüchse an den Kirchentüren stehen sollten, um für, ich glaube mich zu erinnern, das Müttergenesungswerk zu sammeln. „Und?“, fragte ich „Machst du das?“ Darauf sie: „Nee.“ „Und warum nicht?“ „Ich bettel doch keine Leute an!“ „Aber wenn alle das machen?“ „Das ist doch freiwillig, haben sie gesagt.“
Insgesamt stellte es sich so dar: Den Kindern wurde vermittelt, diese Aktion sei Tradition, an der sie sich freiwillig ebenfalls beteiligen könnten. Sie MÜSSTEN nicht, aber es wäre halt schön und ein Zeichen der Solidarität (die uns niemals entgegengebracht wurde in dieser Gemeinde), wenn sie freiwillig dazu bereit seien. Meine Tochter sagte mir, dass sie in jeder Vorbereitungsstunde aufgefordert wurde, doch einmal darüber nachzudenken, sich freiwillig in diesen Dienst stellen zu lassen. Im Endeffekt war sie die Einzige, die NICHT daran teilgenommen hat, alle anderen haben sich dem freiwilligen Zwang ergeben.
Ich bin vor Stolz fast geplatzt (und platze selbst heute noch), dass eine Achtjährige so viel Selbstbewusstsein und Rückgrat zu zeigen imstande war.
Da muss ich dann ja wohl doch nicht alles verkehrt gemacht haben …
Zum Abschluss möchte ich noch eine ganz andere Episode erzählen, von der man halten kann, was man will.
Ich habe eine Zeitlang auf Sardinien leben dürfen, und dort war das Betteln und Hausieren an der Haustür noch „normal“. Vielleicht war es dort eigentlich auch verboten, das weiß ich nicht, aber einmal zum Beispiel wurde mir mit der klassischen Mantelöffnungsgeste eine Variation von „soeben frisch mit dem Schiff aus der Schweiz eingetroffenen“ Uhren präsentiert. Mein Hinweis darauf, dass die Schweiz über keinen Hafen verfüge, ließ den jungen Mann sprachlos.
Ein anderes Mal stand ein verhärmtes Männchen vor meiner Tür und fragte, ob ich etwas Geld für ihn hätte. Spontan verneinte ich und schloss die Tür wieder. Als ich mich zum Spiegel umdrehte, sagte in mir eine Stimme mahnend (und ich habe sie gehört!): „Was ihr dem geringsten unter meinen Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan.“
Ich bekam einen regelrechten Schock, riss die Tür wieder auf – aber der alte Mann war schon verschwunden. Mein Herz raste, ich suchte mein Portemonnaie: Es waren nur noch 5.000 Lire darin, zu dem Zeitpunkt etwa 3,50 DM. Ich suchte im Treppenaufgang: Der Mann war verschwunden (so schnell? Er war doch alt und klapprig.) Ich lief auf die Straße und konnte ihn nicht entdecken. Ich klapperte den Metzger, den Frisör, den Obsthändler ab. Keiner hatte ihn gesehen. Als ich aus dem Lebensmittelladen kam, sah ich ihn die Straße queren, hielt ihn auf und gab dem verwunderten Mann mein letztes Geld.
Jetzt kann man mich für verrückt erklären, aber ich bin der Überzeugung, dass das, was danach, am selben Tag, geschah, mit diesem Ereignis unmittelbar zusammenhängt, denn ein paar Stunden später kam ein Kollege meines Mannes und teilte mir mit, dass er an einem Unfallgeschehen auf der Schnellstraße vorbeigekommen sei, der Wagen meines Mannes liege kopfüber neben dem Straßengraben auf dem Feld, alles sei um ihn herum verteilt und er habe meinen Mann mit einem dicken Kopfverband bei den Sanitätern sitzen sehen.
Kurz darauf wurde mein Mann von einem anderen Kollegen gebracht. Der Wagen war wirklich Schrott, er war von der Fahrbahn abgekommen, genau zwischen zwei Begrenzungspfählen hindurch habe er sich mehrfach überschlagen und sei auf dem Dach liegengeblieben, aber mein Mann hatte nur eine zwei Zentimeter große Schramme auf dem rechten Handrücken. Allerdings war in seinem Hemd sowohl auf dem Rücken wie gegenüber auf der Brustseite ein Loch, das die Batteriesäure hineingebrannt hatte … aber sein Körper zwischen den beiden Löchern wies keinerlei Verletzung (?) auf.
Auch der Kollege, den er an diesem Tag ausnahmsweise einmal mitgenommen hatte, Vater von vier Kindern, hatte nichts (und damals gab es noch keine Airbags), außer einer leichten Prellung am linken Knie, entstanden durch das Handschuhfach.
Eigentlich bin ich nicht abergläubisch, aber es redet mir niemand aus, dass der Unfall ganz anders ausgegangen wäre, wenn ich nicht doch letzten Endes zu Mitgefühl bereit gewesen wäre.
© noé/2019