Das Muschelmädchen

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Das Muschelmädchen

Die Sonne stand hoch und es war heiss. Doch der alte Fischer arbeitete. Wie er es immer getan hatte. Sein Boot schaukelte auf dem Meer. Den Blick ins Wasser gerichtet, hielt er die Schnur und seine ledrigen Finger warteten darauf, dass ein Fisch nach dem Köder schnappte. In letzter Zeit lief es jedoch nicht gut. Es schien, als wäre das Meer tot. Manchmal fischte er tagelang, ohne überhaupt einen Fisch zu sehen. Dennoch fuhr er jeden Morgen hinaus und kehrte erst am späten Nachmittag zurück. Mit einem Seufzen zog er die Leine ein. Der Haken war leer. «Diese Fische werden immer schlauer!» murmelte er vor sich hin. Bedächtig nahm er die Holmen in die Hand und ruderte den langen Weg zurück.
Es war bereits Abend, als er das Boot auf den Strand zog. Auch andere Fischer kehrten heim. Die meisten ebenfalls ohne einen Fang gemacht zu haben. «Die Fische verstecken sich sicher im tieferen Wasser.» meinte der eine. «Ich werde morgen weiter hinausfahren.»
«Vielleicht gibt es auch gar keine Fische mehr.» sagte ein anderer.
«Blödsinn. Wo Wasser ist, muss es auch Fische geben.» sagte der Erste.
«Ich fahre morgen wieder hinaus. Wie jeden Tag.» sagte der alte Fischer und machte sich auf den Weg zur Hafenkneipe. Auf dem Weg dahin kam er am Markt vorbei. Es war noch nicht dunkel und so herrschte hier immer noch ein reges Treiben. Verkäufer riefen durcheinander, die Leute drängelten um die Stände und es roch nach den unterschiedlichsten Dingen.
«Muscheln! Bunte Muscheln! Kaufen Sie bunte Muscheln!» rief ein kleines Mädchen an einer Hausecke. Das Gesicht war dreckig und seine Kleidung bestand fast nur aus Flicken. Doch es strahlte jeden freundlich an, der vorüberging. So auch den alten Fischer.
«Sie sehen traurig aus.» sagte das Mädchen.
«Sieht man mir das so gut an?» fragte der alte Mann lächelnd.
«Ja, ich habe es in ihren Augen gesehen.»
Der Fischer war überrascht. «In meinen Augen?»
«Ja. Sie glänzen nicht. Aber das tun sie heute nur noch bei wenigen.»
«Es sind auch keine leichten Tage. Ich bin Fischer, aber ich fange keine Fische mehr. Dann habe ich nichts zu essen.»
«Möchten Sie eine bunte Muschel haben?» Sie kramte ein bisschen in der Schachtel, die sie unter dem Arm trug. Auf der Handfläche, die sie dem alten Mann entgegenhielt, lag eine in allen Farben verzierte Muschel. «Die habe ich unten am Strand gefunden. Schön nicht? Der Wind sagte mir, wo ich sie finde.» sagte das Mädchen strahlend.
Der alte Mann nahm die Muschel und betrachtete sie. «Sie ist wirklich schön. Was möchtest du dafür?»
«Das ist ein Geschenk. Von mir und dem Meer. Damit ihre Augen wieder glänzen.»
Der alte Fischer war sehr gerührt. «Vielen Dank meine Kleine. Das ist ein sehr schönes Geschenk und ich werde gut darauf aufpassen.»
«Behalten Sie die Muschel immer bei sich ja? Und denken Sie an mich, wenn Sie sie anschauen. Dann hat das Meer auch Freude. Versprechen Sie mir das?»
«Ich verspreche es hoch und heilig.» sagte der Fischer.
Zum Abschied umarmte er das Mädchen sanft und ging zur Hafenkneipe, um sich ein Gläschen Schnaps zu gönnen.
Am nächsten Tag fuhr er wieder mit dem Boot hinaus. Das Meer war ruhig und das Wasser tiefblau. Der alte Fischer fühlte sich seltsam beschwingt und als er die Schnur auswarf, pfiff er sogar leise ein altes Lied. Plötzlich zuckte die Leine und der alte Mann konnte sein Glück kaum fassen. Ein Fisch zappelte kurz darauf im Boot. Bald darauf noch einer. Am Ende des Tages hatte er mehrere grosse Fische gefangen. Mehr als genug für eine Woche. Und es würde sogar etwas übrig bleiben, um es auf dem Markt zu verkaufen.
Er legte die Hand auf die Brusttasche und nahm die farbige Muschel heraus. Der alte Fischer dachte an das kleine Mädchen und lächelte. «Sie wird Augen machen, wenn ich ihr meinen Fang zeige.»
So schnell er konnte, ruderte er zurück nach Hause. Auf dem Markt suchte er das Muschelmädchen. Er rief laut nach ihr, doch es antwortete niemand. Als er an die Hausecke kam, wo er sie gestern traf, fand er nur die kleine Pappschachtel. Darin lagen ein paar farbige Muscheln. Sonst nichts.

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