DE 2011 Zurück im Dorf der Kindheit

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von Willi Grigor

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Wie kann man einer vierjährigen, freundlichen Kindheitszeit danken?
Vielleicht, indem man seine Erinnerungen und Gedanken an sie aufschreibt und andere lesen lässt.

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Ein Mensch, der eine schöne Kindheit hatte,
die freudig ihn nun durch sein Leben trägt,
dem können auch die dunklen Lebensschatten
nicht mehr die warmen Flammen löschen,
die Glut, die tief in seinem Herzen brennt.
Die warmen Flammen ihn das Kind sein lassen,
das so wie einst auf grünen Wiesen rennt.
WG
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Dieser Teil meines Berichts unserer Deutschlandreise 2011 ist eigentlich kein Reisebericht, sondern mehr eine eigenständige Erzählung über den Besuch in Segringen bei Dinkelsbühl am 17. September 2011, bestehend aus so gut wie ausschließlich positiven Erinnerungen aus meiner Kindheit dort von Mai 1945 bis Ende Dezember 1951.
Anfang1945 wurde ich 2 Jahre alt, meine ersten Erinnerungen stammen wahrscheinlich aus dem Jahr 1948. Ich erhielt interessante Informationen von Fritz Popp, Gerda Schürrle (geb. Dollinger) und Tante Marika Eisenhauer, die ich mit eingebracht habe.

Verständnishalber zuerst eine kurze Zusammenfassung darüber, wie und warum unsere Familie nach Segringen kam:
Meine Vorfahren sind deutsche Auswanderer ins damalige Österreichische Kaiserreich. Durch Grenzveränderungen nach dem ersten Weltkrieg wurden sie 1919 plötzlich rumänische Staatsbürger. Ein Jahr nach Ausbruch des zweiten Weltkriegs durften, aufgrund einer deutsch-rumänischen Vereinbarung Ende 1940, Deutsch-Rumänen nach Deutschland umsiedeln, was die meisten auch taten. An Eigentum durften sie nur mitnehmen, was sie tragen konnten.
Meine und die Familie mütterlicherseits sowie viele andere kamen - über mehrere Stationen in Süddeutschland - in das von Deutschland besetzte Polen. Im Januar 1945 begann die allgemeine Flucht bzw. Vertreibung der Deutschen aus Polen. Nach chaotischen und verlustreichen Monaten (drei unserer Angehörigen starben zu Beginn der Flucht) landeten wir schließlich in einem kleinen Lager auf dem Hesselberg nahe Dinkelsbühl in Bayern, in der amerikanischen Zone. Nur wenige Tage nach dem Kriegsende am 8. Mai 1945 kamen wir im nicht weit entfernten Bauerndorf Segringen unter und wurden vom damaligen Bürgermeister Heinrich Schmidt und den übrigen Einwohnern gut aufgenommen. Zu Weihnachten 1951 zogen meine Eltern mit den Kindern zu ihrer schließlichen Bleibe in Düsseldorf.

Meine Frau und ich fuhren von unserem Wohnort Åmål in Schweden via Düsseldorf nach Dinkelsbühl. Dort wohnen Onkel Jakob Schulz mit Frau und Sohn Klaus mit Familie. Jakob ist als einziger der Großfamilie nach dem Krieg nicht weitergezogen. Am 17. September fuhren wir nach Segringen, wo ich nach langer Zeit die noch lebenden Bekannten treffen und meine Lieblingsplätze von damals besuchen wollte.
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Ein Bauerndorf in Mittelfranken
in dieser schweren Nachkriegszeit
für Flüchtlinge zog hoch die Schranken
mit seiner warmen Freundlichkeit.

Mein Kindheitsdorf, mein Segringen,
ein Schmuckstück heute ist.
Das ob're Gasthaus, Dollinger,
kein netteres ich wüsst.

Der Holzkreuzfriedhof nebendran,
ein Deutschlandunikat.
Fahr nicht vorbei, schau ihn dir an,
den Ort mit Prädikat.

Noch ist sie da, die alte Zeit,
dank der Erinnerung.
Ich denk zurück in Dankbarkeit
und fühl mich wieder jung.

Ein kleines Dorf in Mittelfranken
hat meine Kindheit mir gegeben.
Ich will auch hiermit dafür danken,
vor allem EUCH, die nicht mehr leben.
WG
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Die 2,5 Kilometer zwischen Dinkelsbühl und Segringen bin ich vor meiner Auswanderung nach Schweden 1975 oft gefahren, und ich erinnere mich auch noch gut an die vielen Fußmärsche auf dieser Straße Ende der 1940er Jahre. Die Segringer Kirche und die sie umgebenden Häuser stehen auf einem Hügel und bilden so eine weithin sichtbare Landmarke. Nach einigen Minuten biege ich links ab von der Landstraße, fahre durch den Ortsteil Segringen-Rain und sehe dann schon links das Gasthaus Klein, "die untere Wirtschaft" und die alte Linde vor der Schule, in die ich Herbst 1949 eingeschult wurde. Unser Lehrer war der allseits beliebte Herr Brunner. In einem Klassenraum unterrichtete er gleichzeitig die Klassen 1-4, wenn ich mich richtig erinnere. Auf einem Schulfoto von 1950 mit allen Schülern sieht man Herrn Brunner mit seinem Sohn. Unter ihm sitzt Eva, seine (bei uns Jungen) wohl noch beliebtere Tochter. Sie wohnten im ersten Stock der Schule. An der Eingangstür unten zur Wohnung, bzw. zur Treppe, befand sich ein Namensschild und ein Knopf. Wenn man auf diesen drückte (was wir uns nicht trauten) ertönte ein Summen und man konnte die Tür aufdrücken. Das hat einen ungemeinen Eindruck auf mich gemacht. In Düsseldorf ab 1952 war das nichts Besonderes mehr. Etwas Besonders dagegen waren am Anfang die vielen Ruinen, die unsere Spielplätze wurden. Aber das ist eine andere Geschichte.
Noch einmal zurück zu meinem Lehrer, Herrn Brunner: Ich war etwas enttäuscht, dass er in dem Buch "Dorfchronik Segringen" in der Liste "Lehrer an der Schule in Segringen" nicht angegeben ist.

Gleich hinter dem prächtigen Lindenbaum an der Schule gabelt sich der Weg. Rechts geht es nach oben zur Kirche und dem Gasthaus Dollinger, "die obere Wirtschaft". Ich biege links ab und sehe links das Haus, in dem meine Schwester Aura bei den zwei Schwestern Mähner wie als Kindes statt tagsüber war und mithalf. Gegenüber das Haus, in dem früher die Dorfschmiede war und wo mein Vater, ein gelernter Schmied, manchmal ausgeholfen hat. Hier sah ich als Kind zu, wenn der Schmied Michael Karl Feeß den heißen Metallring über ein Wagenrad legte und hörte das Zischen, wenn er den Ring danach mit Wasser abkühlte, damit er fest an das Rad gepresst wurde. Paula, die Enkelin des damaligen Dorfschmieds, wohnt heute (2011) noch in diesem Haus. Meine Schwester Cornelia ist immer noch gut mit ihr befreundet.

Nur 150 Meter weiter die nächste Weggabelung. Ich biege links ab und gleich wieder links, hinein in den Hof des L-förmigen Gebäudes. Auf diesem Bauernhof, bei den "Sesslers", verbrachte ich meine schönen Kindheitsjahre. Segringen war der Endpunkt der Flucht unserer Familie aus Polen kurz vor Ende des zweiten Weltkriegs. In den Sommern 1949-51 durfte ich meine Tage nach der Schule - und natürlich in den Ferien - auf diesem Bauernhof verbringen und mich u. a. als Kuhjunge nützlich machen. Das Ehepaar Karl und Karoline Zerrer ("Sessler" war der Hausname) behandelten mich wie einen eigenen Sohn, den sie nicht hatten. Ihr einziges Kind war Tochter Elsa, die im November 1951 Fritz Popp heiratete. Zusammen mit einem Bauernmädchen, Erika Wagner, ging ich an der Spitze des Hochzeitszuges in die Kirche und streute Blumen. Getraut wurde das Brautpaar von Pfarrer Sperl. Auf dem Hochzeitsfoto vor der "Gastwirtschaft u. Handlung von Friedrich Dollinger" sitze ich neben Braut und Brautmutter auf dem Schoß des Brautvaters, der zu dieser

© Willi Grigor, 2012 (Rev. 2017)

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