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zuzuschauen, wenn das Wasser abgelassen und die Karpfen herausgefischt wurden.
Hier kehrte Fritz um und ging wieder zurück. Er hat beim Laufen etwas Probleme mit dem Knie. Wir verabredeten, dass ich ihn in ca. einer Stunde abhole und wir dann gemeinsam zu Elsas Grab gehen.
Gullan und ich gingen weiter entlang der freien Wiesenfläche zwischen Schleifweiher und dem Dorf. Von hier habe ich starke Erinnerungen aus meiner Zeit als Kuhjunge. Hier war damals nicht eine große Wiese wie heute, sondern mehrere kleine, vermischt mit Äckern, die verschiedenen Bauern gehörten. Meine Aufgabe war, darauf zu achten, dass meine Kühe nicht auf fremde Wiesen oder Äcker liefen. Ich glaube es war hier, als ich wohl geträumt und unaufmerksam war und eine Kuh in einem Kleefeld fressen ließ . Es war nicht weit vom Hof weg, Elsa kam, um nach mir zu schauen, ermahnte mich mit ernster Miene und erklärte, dass die Kühe krank werden, wenn sie zu viel Klee fressen.
Ein klares Bild habe ich von der Aufregung später im Stall. Die Kuh legte sich hin und ihr Bauch schwoll an. Der Veterinär wurde gerufen und ich sah, wie er ihr mit einem Instrument in den Leib stieß um die Gase entweichen zu lassen. Die Kuh wurde wieder gesund. Ich wurde nicht ausgeschimpft sondern nur ermahnt, dass das nicht mehr vorkommen darf.
Ein anderes Mal jedoch wurde ich ausgeschimpft. Man erwischte mich, wie ich versucht habe auf einer Kuh zu reiten!
Es war ein nostalgisches Wiedersehen mit diesem Platz, verstärkt durch das gleichzeitige Erzählen für Gullan.
Wir gingen wieder nach oben, Richtung Dorf. Am Horizont sahen wir überraschend deutlich den Hesselberg, auf dem meine Familie, zusammen mit anderen, nach der Flucht aus Polen Anfang Mai 1945 in einem provisorischen Lager unterkamen. Am 8. Mai war der Krieg zu Ende und kurz danach wurden wir von den amerikanischen Soldaten nach Segringen gebracht.
Nach weiteren 200 Metern waren wir an der Kreuzung unterhalb der Kirche. Wir bogen rechts ab um Fritz zu holen. Fritz hatte sich umgezogen und war bereit. Wir fuhren zum Friedhof, der wohl einzigartig ist in Deutschland.
Der Friedhof in Segringen ist seit 1978 denkmalgeschützt. Die jetzige Form mit den geschnitzten oder gemalten Verzierungen stammt aus der Zeit von 1800-1820 und wird in der hiesigen Schreinersfamilie von einer Generation an die nächste weitergegeben. Für die Namen und Knöpfe wird echtes Blattgold verwendet, das selbst bei ganz schwachem Licht noch einen „Morgenglanz der Ewigkeit" aufleuchten lässt.
Am schönsten ist der Friedhof im Frühjahr, wo mit dem Palmsonntag alle Gräber in den verschiedensten Farben der Stiefmütterchen leuchten. Aber auch im Sommer hat er seinen Reiz mit einem fast einheitlichen Rot der Begonien.
Leider gibt es keine zuverlässigen Quellen über den Ursprung der Holzkreuze auf den Gräbern. Vermutlich waren in der Vergangenheit auch auf den umliegenden Friedhöfen ähnliche Grabkreuze üblich. Offenbar wurde - im Lauf der Jahre mit gewissen Abwandlungen - nur in Segringen die Tradition erhalten. Die Holzkreuze müssen nach zehn Jahren erneuert werden.
(Text aus www.segringen.de)
Ich parkte das Auto auf dem Platz vor dem Gasthaus Dollinger. Vom Eingang des Friedhofs geht man direkt auf den Kirchturm zu. Am 13. November 1951 ging ich diesen Weg an der Spitze des Hochzeitszuges zur Trauung von Elsa und Fritz und streute, zusammen mit dem Bauernmädchen Erika Wagner, weiße Blumen. Auf dem Hochzeitsfoto nach der Trauung mit allen Gästen, das vor diesem Gasthaus gemacht wurde, sitze ich auf den Knien des Brautvaters in der ersten Reihe.
Gleich links vom Kirchturm waren einige neuere Gräber. Eines stach hervor, es war mit Kränzen und Blumen geschmückt. Hier ruht seit dem 7. September 2011 Elsa Popp, die feine Tochter der Sesslers und langjährige Ehefrau von Fritz. Wir legten die Blumen dazu, die wir zu diesem Zweck mithatten. Ich war wohl genau so bewegt wie Fritz.
Nach einer Weile der Stille fragte ich Fritz, wann das schlichte Holzkreuz durch das permanente im typischen Stil ersetzt wird. "Das wird wohl bald sein", sagte Fritz. "Der Schreiner wartet immer, bis einige Kreuze anzufertigen sind, und wie man sieht, ist das ja der Fall." Es ist alter Brauch, dass ein ortsansässiger Schreiner die Grabkreuze schnitzt. Es gibt immer noch einen im Dorf. Zu meiner Zeit waren es zwei.
Ich bat Fritz, uns auch die Gräber seiner Schwiegereltern zu zeigen. Oh Willi, sagte er. Die gibt es schon lange nicht mehr. Die Kirchengemeinde hat das hier so geregelt, dass jedes Grab nach 25 Jahren eingeebnet wird und so Platz geschaffen wird für neue. Auf diese Weise reicht der kleine Friedhof für die Gemeinde.
Jetzt fiel es mir auf, dass alle neuen Gräber an der gleichen Stelle lagen. Der zuletzt Verstorbene erhält sein Grab neben dem davor Verstorbenen. Hier gibt es keine Familiengräber oder die Möglichkeit, sich einen bestimmten Platz zu reservieren. Alle werden gleich behandelt, unabhängig von der Stellung, die man im Leben hatte. Aus diesem Grund sind auch alle Gräber gleich groß und geschmückt, und die Grabkreuze von gleichem Aussehen. Auf den Kreuzen ist das Alter des Verstorbenen angegeben (Jahre, Monate, Tage).
Wir machten einen Rundgang durch den kleinen Friedhof, was gleichbedeutend war mit einer Umrundung der Kirche. Auf der anderen Seite der Kirche steht die "Alte Schule", die heute das Pfarrhaus ist. In der alten Schule wohnte meine Familie - zusammen mit mehreren anderen - die erste Zeit nach unserer Ankunft in Segringen Mai 1945, bis wir dann später in das kleine Häuschen - "die alte Molkerei" - neben dem Gasthaus Dollinger umzogen. Dieses Häuschen gibt es heute nicht mehr.
Wir gingen durch den Seiteneingang in die 2004 neu renovierte evangelisch-lutherische St.Vinzenzkirche, deren älteste Bauteile aus dem 12. Jahrhundert stammen. Es ist eine kleine aber feine Kirche. Wir verließen sie durch den Haupteingang im Glockenturm. Zu meiner Zeit läutete hier ein Glöckner über ein langes Seil die Glocke. Der freundliche Mann ließ mich manchmal "mithelfen". Wenn er das Seil fast bis zum Fußboden gezogen hatte, umfasste ich das Seil und ließ mich von der Glocke nach oben ziehen. Spaß im Vorraum der Kirche, warum denn nicht.
Auch ein anderes Ereignis ist mir noch im Gedächtnis. Als das neue Ziffernblatt den Turm hochgezogen wurde, schauten wir Kinder natürlich zu.
© Willi Grigor, 2012 (Rev. 2017)
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