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Zeit ja tatsächlich so etwas wie mein Ziehvater war: Mein Vater war schon seit einiger Zeit in Düsseldorf, wo er eine Arbeit bei einem großen Unternehmen bekommen hatte.
Einen Monat später zog unsere Familie um nach Düsseldorf. Zum Abschied bekam ich von den "Sesslers" 20 DM, eine stattliche Summe damals. Die Wohnung, die die letzte Station meiner Eltern wurde, war (fast) fertig. Die Sehnsucht zurück ins Dorf verschwand nie ganz.
Später, als ich erwachsen war und die Sesslers tot, hatte ich via Telefon regelmäßigen Kontakt mit den Popps, die den Hof übernommen hatten. Mit Gullan (meine Frau) und den (kleinen) Kindern habe ich sie in Segringen besucht.
Heute, am 17. September 2011, sind wir gekommen, um sie wieder zu besuchen. Leider kamen wir zwei Wochen zu spät, Elsa ist am 3. September verstorben. Sie war schon längere Zeit krank und bettlägerig.
Enkelsohn Jochen und ein Handwerker waren dabei, eine neue Dachrinne an die Scheune zu montieren. Fritz kam aus dem Haus und lächelte über das ganze Gesicht. Umarmungszeremonien mit gleichzeitigen Beileidsbezeugungen.
Er führte uns ins Haus. Das Krankenbett, in dem Elsa lange gelegen hat und gestorben ist, stand noch da. "Es gehört dem Krankenhaus und wurde noch nicht abgeholt", erklärte Fritz. Er wohnt zum Glück nicht allein in dem großen Haus. Sein Enkelsohn mit Frau wohnen auch hier. Der Sohn ist vor einigen Jahren viel zu jung verstorben.
Nach einem kurzen, etwas gedämpften Gespräch begannen wir die Haus-, Scheunen- und Hofbesichtigung.
Die Küche ist schon seit Langem umgebaut, aber ich weiß noch genau, wie sie damals ausgesehen hat. Hier links stand der große Backofen, in dem die alte Frau Sessler (für mich kleinen Jungen war sie alt) alle paar Wochen große, runde Sauerteigbrote backte. In der Mitte, vor dem Fenster, stand der große Tisch mit der hell geschrubbten Tischplatte und dem langen, klebrigen Fliegenfänger darüber, der an der Decke an einem Haken hing. Hier hatten Herr und Frau Sessler, Tochter Elsa, Herr K. und ich genügend Platz bei den gemeinsamen Mahlzeiten. Herr K. (ein Vertriebener aus dem Sudetenland, der bei den freundlichen Sesslers ein temporäres Zuhause fand) schnitt den geräucherten Speck direkt auf dem Tisch immer mit seinem eigenen Messer in hauchdünne Scheiben. Er war schon etwas älter und ihm fehlten einige Zähne.
Im früheren Stall befinden sich jetzt die moderne Heizanlage und die ebenso moderne Wurstküche des Enkelsohnes Jochen, der ein guter Metzger ist. Früher waren hier "meine" Kühe untergebracht und auch einige Schweine. Ich habe heute noch das Geräusch im Ohr, wenn Elsa beim Melken mit der Hand den Milchstrahl in den Eimer spritzte, und den Geschmack der warmen Milch im Mund, wenn sie den Strahl in meinen offenen Mund lenkte. Das Hüten der Kühe, allein und zum Teil auf abgelegenen Wiesen, machte mir Freude und hat mich in positiver Weise geprägt (siehe Gedicht "Junghirt" auf der letzten Seite).
Der früher offene Platz zwischen Stall und Scheune ist heute überbaut. Oben eine Wohnung und unten ein Raum, in dem man eine zünftige Brotzeit mit Bier verzehren kann. Der Durchgang zur Scheune ist aber noch da. Früher wurde hier im oberen Teil der Scheune Heu und Stroh bis unter dem Dach gelagert. Heute lagert dort "a Haufa Glump" wie Fritz sagte, der aber offenbar zum Wegwerfen doch zu schade ist.
Im unteren Teil der Scheune waren früher die Dreschmaschine sowie andere Geräte und Wagen untergebracht. An die unglaublich staubige und laute Drescharbeit im Herbst kann ich mich gut erinnern. Traktoren hatte man in den ersten Jahren nach dem Krieg nicht. Die Mähmaschine und die Wagen wurden von ein oder zwei Kühen gezogen. Die Kühe zogen mit dem Kopf über ein Zuggeschirr auf der Stirn. Wohl eine Besonderheit in dieser Gegend damals. Auf alten Bildern in Büchern ziehen sie (jedoch meistens Ochsen) mit dem Geschirr an der Brust.
Es wurde aber auch viel mit der Sense gemäht. Ich war oft mit dem alten Herrn Sessler auf abgelegenen Wiesen, wo er mit den Händen Gras oder Getreide mähte. Heute hat Fritz hier in der Scheune seinen Traktor und vor allem viel Platz für sein Holz aus dem eigenen Wald. Er ist gut über 80, macht aber das gesamte Brennholz für das Aufheizen des großen Hauses noch selbst. Die Wiesen und Äcker sind verpachtet.
Wir gingen hinaus auf den Vorhof. Hier dominierten früher der große Misthaufen direkt vor dem Stall und die Heuwagen vor der Scheune. Heute ist der Vorhof ein großer, sauber mit Platten belegter Parkplatz. Ein kleiner Flecken mit Rasen zeigt mir an, wo der kleine Gemüse- und Blumengarten lag. Hier gab mir der alte Herr Sessler eine praktische Lehrstunde über das Schlachten von Hühnern. Er drückte mir eine Axt in die Hand, schnappte sich eine der frei herumlaufenden Hennen und hielt ihren Kopf über einen Holzklotz. Ich verstand sofort, schlug zu und der Hühnerkopf fiel zu Boden. Herr Sessler ließ das kopflose Huhn los und laufen. Es lief flatternd über den Hof bis in den anschließenden Obstgarten und verfing sich dort in der Hecke.
Siehe literatpro.de/gedicht/050416/erlaubter-totschlag
Dies war das einzige Mal, dass ich als Schlachter tätig war. Ich habe aber damals öfter beim Schlachten von Hühnern, Hasen, Schweinen und Kälbern zugesehen. Das Schweineschlachten war immer ein großes Fest. Zum Wursten verwendete man die von Elsa sorgfältig gereinigten Därme. Zum Abschluss aßen alle die kräftige "Metzelsuppe" mit viel Fleisch, die Elsas Mutter gekocht hatte.
Wir gingen weiter in den Obstgarten bis zu der Stelle, wo das Huhn damals ausblutete. Die Hecke gibt es allerdings nicht mehr. Gullan war nicht so angetan von dieser Geschichte.
Wir schlenderten durch den langschmalen Obstgarten, in dem früher mehr Obstbäume waren als heute. Fritz erzählte uns unter einem riesigen Apfelbaum, dass die Äpfel am Tag vorher gepflückt und zum Vermosten gebracht wurden. Wir probierten einen von den übriggebliebenen. Ich sagte mir in Gedanken: "Der Most wird hoffentlich süßer schmecken."
Wir kamen zum Ende des Gartens und gingen nach rechts in Richtung Schleifweiher, an den ich auch schöne Erinnerungen habe. Hier habe ich schwimmen gelernt und zusammen mit anderen Kindern Floße aus Binsen gebaut. Es handelt sich um einen aufgestauten Karpfenweiher, von denen es hier mehrere gibt. Es war immer spannend
© Willi Grigor, 2012 (Rev. 2017)
Weitere Segringen-Gedichte:
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