DE 2011 Zurück im Dorf der Kindheit - Page 4

Bild zeigt Willi Grigor
von Willi Grigor

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Dabei passierte das Missgeschick, dass das Ziffernblatt aus einigen Metern herabstürzte. Es war an einer Ecke etwas verbeult.

Es war jetzt ungefähr drei Uhr, das Wetter war schön und warm und der Tisch vor dem Gasthaus sah einladend aus. Fritz setzte sich strategisch auf den Stuhl an der Schmalseite des Tisches, während Gullan und ich in das Gasthaus gingen und uns etwas umsahen. Viele Erinnerungen gingen mir durch den Kopf. Hier habe ich 1951 zum ersten mal ein Telefon gesehen. Mein Vater rief aus Düsseldorf an, wo er Arbeit bekommen hatte. Wir wohnten gleich nebenan in der umgebauten "Alten Molkerei", das links an der Scheune neben dem Gasthaus angebaut war. Die damalige Wirtin, Wilhelmine Berta Schmidt, holte meine Mutter ans Telefon und ich folgte mit zum Gasthaus. Hier hatte man das einzige Telefon im Dorf. Berta Schmidt war die Tochter des damaligen Bürgermeisters Georg Heinrich Schmidt. Er war es, der uns Vertriebene hier vor seiner Gastwirtschaft von den Amerikanern im Mai 1945 übernahm. Ich war nur zwei Jahre alt damals, aber von den Älteren habe ich erfahren, dass wir gut aufgenommen wurden. Herr Schmidt, bzw. seine Frau, waren gute Menschen und gaben uns als erstes Brot und Milch und führten uns dann in die "Alte Schule" neben der Kirche, wo wir erst einmal alle untergebracht wurden.

Im Gastzimmer rechts war nicht so viel los aber in einem anderen Zimmer saß eine muntere Gesellschaft. Eine freundliche, junge Frau fragte einladend nach unseren Wünschen. Ich sagte, dass wir gerne draußen sitzen wollen. "Aber selbstverständlich, ich komme gleich zu Ihnen". Sie kam fast umgehend heraus, sah Fritz bei uns am Tisch sitzen und war freudig überrascht. Sie erfuhr, dass der ehemalige Kuhjunge des Sessler-Bauern mit Frau aus Schweden zu Besuch sind. Wir erfuhren, dass sie Heike Wikarek (geb. Dollinger) heißt und 2005 das Gasthaus zusammen mit ihrem Mann übernommen hat. Es ist seit über 100 Jahren im Besitz der Familie. Zuerst unter dem Namen "Schmidt". Die Tochter des Altbürgermeisters Georg Heinrich Schmidt, Wilhelmine Berta, heiratete Karl Friedrich Dollinger und übernahm 1947 das Gasthaus. Hier feierten 1951 Fritz und Elsa ihre Hochzeit. Auf dem Hochzeitsfoto steht die große Hochzeitsgesellschaft (an die 70 Personen, eine davon bin ich) genau unter dem Schriftzug "Gastwirtschaft u. Handlung von Friedrich Dollinger".
(Als 1952 meine Tante Marika ihren Leo heiratete, war die Feier auch in dieser Gastwirtschaft. Das Hochzeitskleid hatte sie von Elsa geliehen bekommen. Marika konnte sich ein Hochzeitskeid gar nicht leisten. So waren die Sesslers und die Popps!)

Fritz bestellte eine halbe "Radler", wir anderen hatten Lust auf Kaffee mit Kuchen. Heike sagte: "Leider habe ich keinen Kuchen mehr vorrätig, aber drinnen ist ein Klassentreffen älteren Semesters im Gange. Dort gibt es reichlich Kuchen. Ich kann sicher davon etwas abzweigen. "Wir bekamen jeder ein herrliches Stück Torte mit Birnenfüllung und Schokoladenüberzug.

Meine Gedanken flogen wieder zurück in die Jahre um 1950. Genau hier vor dem Gasthaus hielt jeden Herbst der fahrbare Dampfkessel. In diesem großen, schwarzen Ungetüm, das an eine Lokomotive erinnerte, wurden Kartoffeln gekocht, die an die Schweine verfüttert wurden. Für uns Kinder war das ein echtes Fest, weil auch wir immer einige Kartoffel abbekamen.

Ein Kleinlaster hielt neben uns und zwei Männer luden einige Fässer ab. "Die kommen mit dem frischen Apfelmost", sagte Fritz. Er kannte die beiden. Einer rief ihm zu: "Kommst net zum Fußball?" Fritz: "Freilich, komm scho noch, muss erscht mei Halbe drinkn."
Fritz Popp - damaliger Gemeinderat - war es, der 1965 die Initiative zur Gründung des Fußballvereins in Segringen nahm. Für den Platz hat er eigenes Land zur Verfügung gestellt. Er war auch der erste Vorstand des SV Segringen. Er hatte überhaupt viele ehrenämtliche Tätigkeiten übernommen (Vorstand): in der Feuerwehr, im Bauernverband, der Jagdgenossenschaft, in der Raiffeisenbank, Posaunenchor, Gefrieranlage (in der nun oft genannten "Alten Molkerei"). Fritz Popp war Gemeinderat und 2. Bürgermeister in Segringen, Stadtrat in Dinkelsbühl und 8 Jahre Schöffe am Landgericht in Ansbach. Für sein ehrenamtliches Engagement erhielt er 2011 von der Stadt Dinkelsbühl die Ehrenmedaille.

Wir waren uns einig: Dies war eine gemütliche Kaffeepause an diesem Tisch vor dem "Dollinger". Damit gingen wir zum Auto und fuhren zurück zu Fritz' Haus. Vor dem Abschied wollte ich aber noch einige Dosen mit Wurst von Jochen kaufen. Ich wählte verschiedene Sorten aus seinem großen Kühlschrank mit Glastür. In Schweden gibt es solche Leckereien nicht.

Wir nahmen Abschied von Jochen und vor allem Fritz. Meine Hoffnung ist, dass er gut zurecht kommt ohne seine Elsa, immer genügend Holz hat in seiner Scheune und dass wir uns bald wiedersehen werden.

Es war jetzt Zeit, wieder nach Dinkelsbühl zu fahren. In zwei Stunden beginnt die Grillparty bei Onkel Jakob bzw. Cousin Klaus, der im gleichen - von ihm verlängerten - Haus wohnt. Vorher will ich aber noch seiner Sauna einen Besuch abstatten. Erfahrungsgemäß schmeckt das Bier danach besser, unabhängig von der Sorte. Ich wollte aber noch unbedingt Gullan "meine" Wiese zeigen (wenn auch von einiger Entfernung), bei der ich am liebsten mit meinen Kühen war.
Ich fuhr wieder hinauf zum Dollinger, bog links ab in die Dorfstraße.
Gleich rechts ist der Hof von "Grimms Hermann", Hermann Wagner (Grimm ist der Hofname), bei dem ich früher oft war. Er ist einige Jahre älter als ich und bewirtschaftet immer noch den Hof. Wir fingen damals zusammen Maulwürfe in Fallen. Hermann trennte geschickt das Fell ab und spannte es auf zum Trocknen. Die Maulwürfe waren eine echte Plage damals. Für jedes Fell bekam er einige Pfennige.
Hermann hatte auch Tauben. Einmal spielten wir mit unseren Gummischleudern. Ich zielte auf eine Taube auf dem Dachgiebel und das Unwahrscheinliche traf ein: die Taube fiel tot herab. Hermann nahm sie, ging zum Misthaufen, drehte ihr elegant den Kopf ab, entfederte sie, nahm sie aus, ging hinauf in den Taubenschlag, fing eine Taube ein und behandelte diese wie die vorige. Danach briet er sie in der Pfanne und es hat hervorragend geschmeckt. Das war das erste und einzige Mal, dass ich Taubenfleisch gegessen habe.
Unser Kontakt hörte 1951 mit dem Umzug meiner Familie nach Düsseldorf auf. Ich denke aber oft an ihn, er war ein besonderer Typ mit einem breiten Lächeln und

© Willi Grigor, 2012 (Rev. 2017)

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