Ein Seelenperlenband

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von Willi Grigor

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... aus Sätzen und Versen

Jeder Mensch trägt eine Kette
unsichtbar um seinen Hals,
dekoriert mit Seelenperlen
guter Menschen, die er kannt'.

Diese Kette sich verlängert,
wenn ein lieber Mensch verstirbt;
eine neue feine Perle
schmückt der Seelen Perlenband.

Eine allerletzte Perle
- bei des Trägers eignem Tod -
wird das letzte Glied im Band,
und es wandelt sich die Kette
in ein Seelenperlenband.

In dem Saal, wo alle Seelen
sich befinden mit der Zeit,
werden Seelenperlen klingen
bis in alle Ewigkeit.

***

Ein Mensch wird geboren und weiß nichts vom Tod.
Hat das Kind Glück und wächst auf in einer friedlichen Welt, kommt es meistens erst spät, als Erwachsener, mit dem Tod direkt in "Kontakt". Man spricht nicht gern mit Kindern über den Tod. Dies ist immer noch ein Tabuthema. Dabei sollte es umgekehrt sein, denn der Tod gehört zum Leben, und über das Leben kann man gar nicht genug mit seinen Kindern reden.
Spricht man nicht mit Kindern über den Tod, könnten sie sich eigene Fantasievorstellungen machen, was viel angstvoller sein kann.

Ich bin ein Kriegskind. Durch meine "späte Geburt" habe ich aber keinerlei Erinnerungen an Kriegshandlungen.
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich als Kind - oder auch später - eine ausgeprägte Angst vor dem Tod hatte. Aber ich kann mich gut daran erinnern, dass ich Angst vor Krieg hatte. Als wir, Deutschstämmige, im Januar 1945 aus Polen flüchten mussten, war ich zwei Jahre alt. In dem bayrischen Bauerndorf Segringen bei Dinkelsbühl bekamen wir eine Bleibe. In diesem Dorf, bei freundlichen Bauern und deren Kindern, verbrachte ich bis 1951 eine schöne Kindheit. Meine Erinnerungen beginnen wohl um das Jahr 1947.
Dass ich Angst vor Krieg hatte, noch heute habe, kann ich mir nur so erklären, dass ich Gesprächsfetzen meiner Eltern oder anderer Erwachsener aufgeschnappt habe. Regelrechte Gespräche über dieses Thema haben meine Eltern mit uns Kindern nicht geführt.
Später, zu Beginn der 1950er Jahre in Düsseldorf, gaben die Radioberichte über den Koreakrieg und die Herrschaft von Stalin mir neue Kriegsangst-Nahrung. Ich weiß noch genau, wie ich mich freute, als Stalin, der uneingeschränkte, rücksichtslose Alleinherrscher in der damaligen Sowjetunion, 1953 starb. Ich glaubte nämlich, dass ein neuer Krieg durch ihn in Deutschland bevorstand.
Später, als Jugendlicher, wollte ich von meinen Eltern erfahren, wie ihre "Reise" seit der Übersiedlung aus Rumänien nach Deutschland 1940 bis Kriegsende verlief. Sie erzählten mir im Prinzip nur, dass wir an mehreren Orten in Bayern und Polen wohnten, aber nie eine feste Bleibe hatten. Und dass mehrere Verwandte im Krieg starben oder vermisst waren. Mehr war nicht. Sie wollten mich wohl nicht mit diesem Teil ihrer Vergangenheit, dem Tod, belasten. Später, in meinem Rentenalter und dem Tod meiner Eltern, erfuhr ich doch noch vieles von der jüngeren Schwester meiner Mutter und ihrem Mann. Gerade noch rechtzeitig.

Was den Tod betrifft, so hat dieser mich lange nicht behelligt, das heißt, ich hatte keine Todesfälle von mir nahestehenden Personen zu beklagen. Dies änderte sich am 29. Januar 1975.

***

Die Oma
Gestorben 1975 in Dinkelsbühl

Meine Oma, wir nannten sie nur "Baba", war die Leitperson unserer Großfamilie seit deren Übersiedlung 1940 von Rumänien nach Deutschland und den Stationen dort bis 1943 und in Polen bis Anfang 1945. Die verzehrende Flucht von Polen in den Westen Deutschlands raubte ihr den Mann und zwei Söhne. Während der Zeit unserer temporären Bleibe in Mittelfranken von Mai 1945 bis Ende 1951 war sie ohne Frage die Hauptperson unserer Rest-Großfamilie
Diese starke, kluge Frau und begnadete Geschichtenerzählerin hat meine Kindheitsjahre in diesem freundlichen Bauerndorf Segringen bei Dinkelsbühl geprägt. Viele Fahrten führten in den folgenden Jahren nach Dinkelsbühl, um sie und die Familie ihres jüngsten Sohnes, der als einziger nicht weitergezogen ist, zu besuchen.
Am 29. Januar 1975, Mittwochabend, kam ein Telefonanruf. Unsere geschätzte und geliebte "Baba", meine Oma, die Mutter meiner Mutter, ist am Mittag verstorben. Sie wurde 89 Jahre alt.
Bereits am 31. Januar, an meinem 32. Geburtstag, war die Beerdigung.
Ich wohnte damals mit meiner Lebensgefährtin, heutigen Frau, in Königstein/Taunus. Ich war in einer wichtigen Phase eines Kernkraftwerkprojektes in Offenbach eingebunden. Bei der Beerdigung dabei zu sein, war aber auch wichtig. Ich war unsicher, ein Begräbnis war Neuland für mich. Mein verstehender Onkel Jakob in Dinkelsbühl beruhigte mich: "Wenn ihr nächstes Mal kommt, gehen wir gemeinsam zum Grab." So geschah es. Dennoch habe ich im Nachhinein oft gedacht, dass ich hätte da sein sollen.

Meine verstorbene Baba ist die erste Perle in meinem "Perlenband", das ich - unsichtbar - um meinen Hals trage. Im Laufe der Jahre kamen weitere hinzu.

Worte meiner klugen Oma
kommen oft mir in den Sinn:

Der Mensch wird in die Welt geboren,
zu wem, wohin, bestimmt er nicht.
Ohne Hilfe wär er verloren,
auf kurze und auf lange Sicht.

Des Menschen Weg ist nie gerade,
es geht hinauf, es geht hinab.
Mal geht er vorn in der Parade,
ein andermal vom Wege ab.

Für viele Menschen, unbestritten,
ist jeder Schritt so wie ein Sieg.
Und andre gehn mit schweren Schritten
durch Armut, Krankheit, Streit und Krieg.

Ich kannte Glück, ich kannte Leiden,
(hat meine Oma mir gesagt)
ich lasse meinen Gott entscheiden,
(sie hat nie hörbar sich beklagt)
denn irgendwann, am Lebensende,
zählt es nicht mehr, ob arm, ob reich.
Der Herr bringt die gerechte Wende:
Die bei ihm sind, sind alle gleich.

***

Der Vater
Gestorben 1982 in Düsseldorf

1982 lebte ich bereits seit sieben Jahren in Schweden. Die Kontakte zum Elternhaus waren spärlich, brachen aber nie ab.
Einige Wochen vor dem Tod des Vaters bekam ich die telefonische Nachricht, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Unsere zwei Kinder waren noch klein. Um ihn noch einmal zu treffen, buchten wir für die kommende Woche die Fähre nach Kiel, um von dort mit dem Auto nach Düsseldorf zu fahren. Zwei Tage vor der Abfahrt wurden beide Kinder krank. Wir buchten um auf das nächste Wochenende. Einige Tage später verstarb der Vater. Wir verabschiedeten uns von ihm bei der Beerdigung. Ein persönlicher Abschied war uns verwehrt.

Du kamst zum Ziel des Lebens
im späten Abendrot.
Du lebtest nicht vergebens,
es brachte dich der Tod
ins Reich weitab der Sterne,
wo Liebe herrscht und Wärme
im steten Morgenrot.

***

Sven "Fakiren" Jonsson, ein Freund und Kollege
Gestorben 1988 in Karlstad, Schweden

Lächelnd kam der neue Kollege 1984 in das technische Büro in Karlstad am nördlichen Rand des größten schwedischen Sees Vänern. Die Hinterkanten unserer Schreibtische berührten sich. Wir schauten uns in die Augen, stellten uns gegenseitig

© Willi Grigor, 2018 (Rev. 2020)

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