Ein Frühlingsdrama in 5 Akten

Bild zeigt Willi Grigor
von Willi Grigor

Ein "Drama", das sich im ganzen Land - in verschiedenen Varianten - tausendfach jedes Jahr zur gegebenen Zeit wiederholt.

1. Akt
Ein Ehepaar mittleren Alters fährt mit mäßigem Tempo auf einer wenig befahrenen Landstraße. Es ist früher Nachmittag. Die ersten kleinen Schäfchenwolken werden von Frühlingsfeen auf dem unbeweglich blauen Himmel auf ihre Reise geschickt.
Der Mann am Steuer zeigt durch seine Miene, dass er mit dem Leben und dem Wetter zufrieden ist. Er summt fast unhörbar ein Liedchen - wie immer, wenn die Fahrt ihn an den Ort führt, den er so gern mag. Bis dahin ist es noch ein Weilchen.
Die Frau auf dem Beifahrersitz beäugt konzentriert und sachkundig die grünenden Flächen zwischen den Bäumen am rechten Straßenrand.

2. Akt
Plötzlich ruft die Frau, ohne den Blick durch ihr Fenster abzubrechen, laut und erwartungsfroh: "Stopp! Hier war es, glaube ich!"
Der Mann unterbricht die vielleicht zehnte Wiederholung seines stumm gesummten Lieblingslieds, schaltet in den zweiten Gang, fährt vorsichtig dicht an die Böschung, schaltet den Motor ab und lässt dem Geschehen seinen Lauf.

3. Akt
Die Frau schnallt sich ab, nimmt die scharfe, spitze Waffe, die sich während des Sommerhalbjahres in dem Handschuhfach befindet, behutsam heraus, steigt vorsichtig aus dem Auto, die Grabenböschung hinunter, dann etwas nach oben. Dort bleibt sie stehen, schaut sich um, nickt erkennend und schreitet zielstrebig zum Ort ihrer beabsichtigten Handlung.
Die Lippen des Mannes im Auto verziehen sich selbstständig zu einem gutmütigen Lächeln.

4. Akt
Mit zufriedener Miene und strahlenden Augen kommt die Frau zurück zum Auto. In der linken, etwas nach oben gestreckten Hand, hält sie triumphierend eine nicht unbeträchtliche Anzahl Beweisstücke ihrer Tat in Richtung des Mannes. Dann schwingt sie sich gutgelaunt und leichtfüßig wieder auf ihren Sitz und legt die Beute vorsichtig auf die Bodenmatte. Die Tatwaffe versteckt sie sorgfältig wieder im Handschuhfach. Mit geschlossenen Augen und einer gewissen Vorfreude atmet sie den Duft ihres Fangs langsam durch die Nase ein.
Der Mann startet den Motor, schaut in den Rückspiegel, fährt auf die Fahrbahn und weiter Richtung Endziel des Ausflugs, sich summend freuend auf die Freuden, die ihn da erwarten.

5. Akt
Dort angelangt stutzt die Frau ihre gewaltsam geraubten, aber noch lebenden Lebewesen kunstvoll zurecht und steckt sie in ein durchsichtiges, dachloses Gefängnis, dessen Raum für die Insassen so bemessen ist, dass diese gezwungen sind, eine stehende Haltung einzunehmen. Etwas Wasser soll das Leben der Zum-Tod-Geweihten etwas verlängern.
Auf einem Tisch mit passender Decke werden sie das nähere Umfeld bis zur Heimreise verschönern.

Epilog
Nach ihrer Rückkehr am nächsten Wochenende erfolgt ein erfolgloser Wiederbelebungsversuch der leblos hängenden, wilden Frühlingsblümchen. Das Begräbnis findet in ländlicher, hörbarer Stille in Anwesenheit von einigen hundert Tannen-, Kiefern- und Birkenbäumen statt.

Wie gesagt, es ist ein Drama - aber nur für die Wildblumen!

© Willi Grigor, 2017

Prosa in Kategorie: 
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