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glitzernden Augen. Das Wohnhaus sah neu aus, der Misthaufen und die alte Scheune waren noch da. (Siehe auch nächsten Abschnitt unter "Einschiebung")
Wir fuhren weiter, die Zeit drängte.
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Einschiebung
2014 machten wir eine Art Abschiedsfahrt nach Düsseldorf. Ein guter Freund, Günter Kohnen, aus meinen Düsseldorfer Jahren hatte nicht mehr lange zu leben, ich wollte ihn noch einmal treffen.
Danach fuhren wir auch nach Dinkelsbühl und Segringen. Fritz Popp hatte seit einiger Zeit gesundheitliche Probleme. Ich wollte nicht versäumen, ihn noch einmal zu sehen. Und selbst wird man ja auch älter. Es steht in den Sternen, ob wir die lange Reise in ein/zwei Jahren nach einmal machen können/wollen.
Fritz hatte jetzt immer seinen Stock mit sich, das Knie aber auch andere Teile des Körpers wollen nicht mehr so richtig. Dennoch war er gut drauf, wie immer, und sprach von seinem Wald, wie immer, in den er mit seinem Traktor bald wieder zum Holzmachen fahren will. Wir fuhren mit ihm zu Elsas Grab. Jetzt war es versehen mit einem dieser typischen Holzkreuzen des unvergleichlichen Segringer Friedhofs. Alle Gräber sind von gleicher Art. Die Kirche war eine Insel inmitten eines Blütenmeeres in verschiedenen Farben an diesem schönen Sommertag Ende August.
Beim langsamen Gang durch diese friedliche Pracht zeigt Fritz plötzlich mit seinem Stock zur Straße hin und sagt zu mir: "Willi, da steht der Grimms Hermann vor seinem Haus." Ich verstand sofort: Jetzt, bei meinem vielleicht letzten Besuch in Segringen, werde ich nach 63 Jahren den damaligen Freund, Maulwurftöter und "Taubenbrater" wiedersehen. Er erkannte mich erst, als ich ihm meinen Namen sagte. Die beiderseitige Freude war groß. Er zeigte mir seinen Hof, der sich - bis auf das neue Wohnhaus - kaum verändert hat. Er hat auch noch Kühe im Stall. Er und ein Nachbar sind diesbezüglich die letzten in Segringen. Hermann ist vielleicht der letzte, der den Grimm-Hof bewirtschaftet.
Grimms Hermann
Sehen sich zwei Kindheitsfreunde
nach über sechzig Jahren wieder,
sind die Augen glänzend schimmrig,
und etwas weich die steifen Glieder.
Ich sah im Herbst in Segringen
in sein strahlend frisches Antlitz,
als wir erkennend uns umarmten
vor seinem bäuerlichen Ansitz.
"Grimms Hermann", Hermann Wagner
war zu unsr'er Zeit ein reger
und beliebter Freundschaftspfleger,
ein erfindungsreicher Lausbub
sowie der beste Maulwurfjäger.
Er hatte Tauben in dem Schlag
und manchmal in der Pfanne,
konnte damit uns beweisen,
dass sie gut sind zu verspeisen.
Sein Haus ist neu, wie zumeist alle,
doch ER hat Kühe noch im Stalle.
Und noch stehen, zu meiner Freude,
die alten Landwirtschaftsgebäude.
Und dann zeigt Hermann mit der Hand,
kurz vor seinem Führungsabschluss,
die Löcher in der Scheunenwand:
"Amerikanischer Granatbeschuss!"
Unser Treffen war ein Glücksfall,
"Wie schön, dass ich dich fand"!
War es nur ein simpler Zufall
oder zog das Freundschaftsband?
Grimms Hermann ist ein wahrer Bauer,
ihm steht die Freude im Gesicht,
doch mich beschleicht ein leiser Trauer:
Ist er hier der letzte Bauer?
Es ist viel, was dafür spricht.
WG, 2014
(Fritz Popp starb 2016, zwei Jahre nach diesem Besuch.)
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Am Ende der Bebauung hielten wir an, hier war das Gelände am höchsten und man konnte einen Zipfel "meiner" Wiese sehen. Ich machte einige Fotos und erklärte Gullan alle Hintergründe, obwohl sie meine diesbezüglichen Geschichten schon kannte. Für einen Besuch dort reicht die Zeit nicht. (Anmerkung: Bei unserem Abstecher nach Segringen 2014 holten wir dies nach.)
Diese Wiese war zwar am weitesten entfernt vom Hof, ca. zwei Kilometer, und der Weg dorthin mit vielleicht 4-5 Kühen war meistens problemlos. Ich hatte einen Stock und flinke Beine und die Kühe kannten den Weg ganz gut. Die Weide liegt ganz abgeschieden und ist an drei Seiten mit Wald umgeben.
Hier saß ich und träumte und aß meine guten Wurstbrote, die Elsa oder ihre Mutter mir mitgegeben hatten. Die Weide hatte nur eine offene Seite, aber trotzdem gelang es ab und zu einer Kuh, in ein angrenzendes Kleefeld zu entwischen, Einzäunungen gab es nicht. Ich wusste, dass es meine wichtigste Aufgabe war, gerade das zu verhindern und lief dann immer wie der Teufel zu der "blöden Kuh" und holte sie zurück. Diese Wiese - und das Alleinsein bei ihr - hat mir gefallen und mich wahrscheinlich geprägt. Auf alle Fälle gehe ich heute noch gern auch allein in den Wald, und beim Segelfliegen war das Alleinsein hoch oben ein wichtiger Teil des Vergnügens.
Wir fuhren weiter, bis die Dorfstraße in die Landstraße nach Dinkelsbühl mündet. Genau hier sah ich einmal zusammen mit anderen Kindern amerikanische Soldaten vorbeifahren, die vom Nachbardorf Wolfertsbronn her kamen. Sie winkten lachend und warfen uns Schokolade oder Kaugummi zu. Einige der Soldaten waren dunkelhäutig. Es war das erste Mal, dass ich solche Menschen sah, und ich lernte ein neues Wort, das man heute nicht mehr verwendet: Neger.
Ich fuhr rechts ab Richtung Dinkelsbühl und erinnerte mich an die spannenden Seifenkistenrennen, die hier an der abschüssigen Straße früher ausgetragen wurden. Man hatte eine erhöhte Startrampe aufgebaut, um eine gute Anfangsgeschwindigkeit zu ermöglichen.
Jetzt sahen wir den Hof von Hermann Wagner von der anderen Seite. Die Wiese fällt stark zur Straße hin ab. Zur Osterzeit warfen wir Kinder hier bunte Eier so weit wie möglich und dann galt es, sein Ei wiederzufinden, am besten heil. Aus Mangel an Eiern bekam ich von meiner Mutter manchmal nur ihr Stopfei aus Holz, dies blieb immer heil. Es war besonders wichtig, dass ich es wiederfand, es war ein wichtiges Werkzeug meiner Mutter.
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Anhang
Dorferneuerung
Das Dorf hat in den zurückliegenden Jahren eine sichtbare Wandlung vollzogen. Aus dem landwirtschaftlichen Dorf wurde ein Wohndorf. Heute (2011) gibt es nur noch zwei Milch produzierende Bauern im Dorf. Die Förderungen im Zuge des Programms "Dorferneuerung" haben dazu beigetragen, dass die Häuser renoviert und die Straßen erneuert wurden. Das Dorf ist im modernen Sinne "schön" geworden.
Segringen wurde Bezirkssieger 2011 im Bundeswettbewerb "Unser Dorf soll schöner werden".
Die Schönheit meines Kindheitsdorfes war eine andere. Aber die befindet sich unauslöschlich in meinem Herzen.
Kriegerdenkmal
Unterhalb der Kirche steht das Kriegerdenkmal zu Ehren der Gefallenen des Dorfes in den beiden Weltkriegen. Die Namen meines Großvaters und dessen Sohn Wilhelm, sowie meines Großonkels und dessen Sohn Johann stehen auch darauf. Ich habe mich oft gefragt warum, da sie ja nie in Segringen waren. Tante Marika besucht das Denkmal immer, wenn sie in Segringen ist. Es ist für sie eine Art Ersatz für die nicht existierenden Gräber.
Gottfried Klein (er betreibt die "untere Wirtschaft" in Segringen) gab mir auf meine Anfrage diese Antwort: Der örtliche "Kriegerverein" in Segringen hatte damals beschlossen, dass auch die im Krieg gefallenen Angehörigen der Ortsansässigen auf dem Mahnmal verewigt werden sollen. Der Kriegerverein ist nicht mehr aktiv aber die Protokollpapiere gibt es noch.
Er schickte mir die relevanten, in denen zu lesen ist:
Der Kriegerverein hat nach dem 1. Weltkrieg das Denkmal für die Gefallenen in Rain aufgestellt.
1953 wurde der Verein neu gegründet. In der Vereinssatzung steht, dass alle Gefallenen des 2. Weltkriegs, deren Angehörige in Segringen wohnen, im Denkmal eingraviert werden sollen.
Dass wir Flüchtlinge waren und wahrscheinlich nur vorübergehend in Segringen wohnten, spielte keine Rolle. Meine Großmutter und deren Schwester, deren Männer und Söhne gefallen sind, lebten bis 1956 in Segringen. Deshalb stehen auch die Namen unserer Gefallenen auf dem Denkmal.
Diese Einstellung zeugt von Stärke und Menschlichkeit der Segringer Dorfbewohner und passt zu unserer Erfahrung, dass wir im Dorf willkommen waren.
Ich möchte mich auch an dieser Stelle dafür bedanken!
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Junghirt
Als älterer Mann denkt er oft und mit Freude
an seine ländliche, einfache Kinderzeit.
Er sieht sich dann wieder auf der einsamen Weide
und weiß, es war eine schöne Zeit.
Viele Stunden allein mit den Rindern
war nichts Beschwerliches, nein.
Es war absolut kein Freudeverhindern,
er war gern mit den Viechern allein.
Es gab Zeit, sich vieles anzusehen,
die Blumen, die umliegenden Felder,
die Bauern mit Sense beim Wiesenmähen,
die angrenzenden Fichtenwälder.
Und spürte er Hunger, dann saß er im Gras
und aß das ihm Mitgeschickte,
inmitten der Kühe bei ihrem Fraß,
eine Gemeinschaft, die ihn beglückte.
Der Marsch zurück in den heimischen Stall
war eine stolze Parade.
Der Junge zeigte mit Peitschenknall:
"Ich bin der Chef der Brigade."
Von der Bäu'rin bekam er seine Belohnung:
Frische Milch und viel Gutes zu essen.
Bei dem Jungen lag auf "viel" die Betonung,
er war hungrig und auf Essen versessen.
Die Zeit als Junghirt von einigen Kühen
war der Beginn seiner Liebe zum Land,
wo er den Hof "Sessler" mit gar keinen Mühen
als eine Art Heimstatt empfand.
Die Bauersleut´ "Zerrer" im Dorfe Segringen
im Kopfe des Mannes noch leben.
Er kennt ihre Stimmen, hört wie sie klingen,
er weiß, dass sie viel ihm gegeben.
In diesem Dorf in den Nachkriegsjahren,
so denkt der Mann jetzt mit Dankbarkeit,
durfte der Flüchtling etwas Großes erfahren:
Wahre Dorfbauern-Gastfreundlichkeit.
WG
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© Willi Grigor, 2012 (Rev. 2017)
Weitere Segringen-Gedichte:
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