Die Siedlung, in der ich mit meinen Eltern als Kind lebte, lag mitten in der kasachischen Steppe und trug den unromantischen Namen ZES, die Abkürzung für Zentrale Elektrostation. Das Kohlekraftwerk befand sich anderthalb Kilometer entfernt. Daneben hatten Anfang der 30er Jahre Stalins Sträflinge die Kohlengrube Schoptykul errichtet. Sie war eine der unzähligen reichen Rohstoffquellen Kasachstans. Die Kohle lag an der Oberfläche und brannte so gut, dass kaum Asche zurückblieb. Die Vorräte waren ausreichend für mehrere Generationen. Die Sowjetmacht erfüllte ihren Plan zur Elektrifizierung des Landes auch in dem noch fast mittelalterlichen Kasachstan. Hätten die Menschen hier so viel Freiheit wie Strom gehabt, wären sie wohl die glücklichsten Menschen der Welt gewesen. Neben den einheimischen Kasachen aus dem Lehmhütten-Aul abseits der Siedlung lebten Russen und die jüdischen Familien der Sträflinge. Sie waren zwangsumgesiedelt worden, entweder auf Lebenszeit oder für mindestens fünfzehn bis fünfundzwanzig Jahre. Zwei von ihnen, Natschalniks, die Chefs oder Befehlsgeber, waren Elektroingenieure. Der eine war ein ehemaliger russischer Häftling. Die Sträflinge wurden zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre in streng bewachten Gefängnissen und Lagern inhaftiert. Ihre Vergehen bestanden zum Beispiel im Diebstahl von Strohhalmen auf den Feldern der Kolchose. Die Leute stahlen vor Hunger. In den 20er und 30er Jahren war die Not groß. Unvorsichtige Äußerungen, Anspielungen auf die Staatsordnung genügten und schon war es um den Menschen geschehen.
Unabsichtlich hatte er die Stalinbüste im Klub berührt, verriet ein Siedler nach Stalins Tod. „Ich wurde auf der Stelle abgeführt. Es gab kein Gericht, kein Urteil; meine Frau wusste lange nicht, ob ich lebe.“ Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden auch meine Eltern, Meta und Rudolf Kelm, zu Faschisten erklärt, allein aus der Tatsache heraus, weil sie Deutsche waren. Auch sie wurden ohne ein richterliches Urteil, laut Stalins Erlass – (Ukas vom 28.08.1941) wegen der Gefahr von Hochverrat und Spionage – in das Hinterland deportiert. Unsere Familie wurde getrennt verbannt, mein Vater nach Ostsibirien an den Polarkreis und meine Mutter mit meinem älteren Bruder nach Kasachstan. Damals war er noch klein, das ersparte ihnen den Abtransport in den Gulag in den hohen Norden. Meine Mutter musste nachts in der Kolchose schuften, sie floh vor Wölfen, ihr Körper schwoll vor Hunger an, ihre Gesundheit wurde in dieser Zeit zerstört. Nach knapp sieben langen Jahren der Trennung durften die Eltern endlich in der kasachischen Steppe „frei“ zusammenleben. Ebenso erging es den Familien Bocksberger, Alles, Stricker, Krot, Bitsch, Töws, Strack, Krutsch, Krebs, Winter, Schlägel, Jauck – ich kann mich nicht mehr an alle erinnern – deren Familienzusammenführung ein Stück Freiheit bedeutete.
Meine erste Erinnerung, mit etwa vier Jahren, prägte sich für immer in mein Gedächtnis ein: Ich halte mich fest an Mutters Hand, bin stolz auf mein geblümtes Sonntagskleid. Wir gehen in eine Baracke, warten in einem dunklen kühlen Flur, treten in ein fast leeres Zimmer, ein Tisch steht da mit rotem Tuch bedeckt, davor ein leerer Holzstuhl, dahinter sitzt ein kleiner Mann mit blauer Schirmmütze, sie ist rotumrandet und goldverziert. Seine Gesichtsfarbe ist gelblich, er hat Schlitzaugen. Ich weiß schon, dass er ein Kasache, ein Milizionär und sehr wichtig ist. Auch dass er kinderlieb ist und mich mag, fühle ich.
„Na, Fräulein, wo sind Sie geboren?“, fragt er mich.
Wie aus der Pistole geschossen lege ich los und erzähle ihm eine fantasievolle Geschichte meiner Herkunft, sie entspringt meinem Wunschdenken. „Meine Eltern und mein älterer Bruder Willi haben mich in einem Paket in unserem Gartenteich unter dem großen Walnussbaum gefunden. Das war im schönen Kaukasus. Jetzt bin ich vier Jahre alt.“ Ich glaubte fest an diese Geschichte, die mein neunzehn Jahre älterer Bruder erfunden hatte. Er erzählte mir, wie sie mich als Paket im Teich fanden, den Rest reimte ich mir zusammen. Meine Eltern sprachen so oft nostalgisch vom schönen Kaukasus, dem Walnussbaum vor der Tür und der Bergluft. Da wollte ich auch geboren sein und nicht in dieser Steppe, die meinen Eltern offensichtlich missfiel.
Der Kommandant amüsierte sich köstlich über mich, jeden Monat aufs Neue. Doch nach dem Lachanfall wurde er ernst, und meine Mutter musste das entwürdigende Dokument, das sie ihrer Freiheit beraubte, unterschreiben. Russlanddeutsche waren verpflichtet einmal monatlich persönlich auf der Kommandantur zu erscheinen und die Unterschrift zu leisten. Auch durften wir uns ohne Sondergenehmigung nicht weiter als im Umkreis von sieben Kilometer bewegen wegen vermeintlicher Fluchtgefahr. Dieser Akt von Willkür prägte sich bei mir nicht als geschichtliches Ereignis ein. Ich war ein Kind und freute mich auf mein Sonntagskleid, das meine Mutter aus billigem Blümchenstoff genäht hatte und die Tasche, die sie aus einem Einkaufsnetz, dessen Henkel sie kürzer verknotete, gemacht hatte. Ich war stolz, an ihrer Seite durch den Ort zu spazieren. Erst viel später wurde mir bewusst, wie schmerzhaft und demütigend dieser Gang für meine Mutter gewesen sein musste. Sie ließ sich jedoch nichts anmerken. Sie hatte gelernt, ihren Schmerz zu verbergen. Äußerlich wahrte sie Haltung mit Stolz und Demut. Diese Tugenden halfen ihr, einer kaum dreißigjährigen deutschen Frau in der Sowjetunion, die qualvollen Jahre der Stalinistischen Repressionen während des Zweiten Weltkrieges zu ertragen.