„Ist das Kunst oder kann das weg?“ – Exkurs in die Philosophie des Mittelmaßes

Bild von lmn
Bibliothek

Trennung - ein Wort, das uns triggert und das wie kaum ein zweites seiner Art eine derartige Permanenz in unserem täglichen Dasein ausweist. Morgens mehr oder minder freiwillig vom warmen Bett, der Familie, dem Zuhause, mittags von der obligatorischen Mittagspause, nachmittags vom Kollegium und der Warteschlange im Supermarkt, trennen uns vom Licht, wenn es dunkel wird und vom Speisebrei, dessen Verlust wohl niemand ernsthaft betrauern wird. Überflüssiger Pfunde hingegen – ein willkommener Verlust! Wir trennen uns stetig von Altem, schaffen dadurch Neues. Weshalb fällt es uns oft schwer, zu entscheiden, ob wir etwas aufbewahren oder damit abschließen wollen?
Trennung – das Verlassen und Abhaken eines Kapitels, einer Person, eines banalen Gegenstandes. Vom Gefühl, das wir mit all' dem verbinden, trennen wir uns entweder aus freiem, opportunistischem Willen oder geraten in Bredouille, müssen eine Entscheidung treffen. Oftmals sieht man sich auch unfreiwillig hinter der Milchglasscheibe stehen, wobei man selbst doch bestimmt nicht aus freien Stücken hierher geraten wäre, nicht heute, nicht morgen, überhaupt und niemals nie in diesem Leben. Wir trennen uns unmerklich von allem, von der vergangenen Momenten, sodass diese als abgeschlossen gelten. Eine Seite weitergeblättert erstreckt sich die Trennung als Verlustgefühl in voller Länge. Verlust ist nicht zwingend negativ konnotiert:

Liegt es nicht im Grunde an unserem Selbstkonzept bzw. der inneren Einstellung zu sich selbst, ob man die Trennung als fatalen, unwiederbringlichen Zerstörer ansieht oder sich, ihrer Permanenz bewusst, ihrer von der Breitseite annähert und als Chance auf Neuanfang annimmt?
Wir werden es nie erfahren.. fühlen uns oft eher überfahren...

Back to Metaebene: Das Umgehen mit Trennung hängt meiner Theorie nach von zwei Faktoren ab:
Numero uno besagt, dass die Tiefe der Wurzeln entscheidend ist, wie schmerzhaft das Ausreißen des Baumes ist
Hinzu kommt der zweite Aspekt: Die Abhängigkeit, beziehungsweise die gedachte Abhängigkeit davon. Der Mensch klammert sich an einem Objekt fest, womit ein besonderes Ereignis verknüpft wird, besonders bei Geschenken von geschätzten/ geliebten Menschen. Oder es sind Sicherheit, Geborgenheit, Zweisamkeit etc., was nicht als Verlust beklagt werden soll.

Elementar ist die Prophylaxe beim Aufheben von Dingen. So werden sie dem Zahn der Zeit und damit einhergehend dem Verlust entzogen, in unserer Obhut konserviert, sodass sie später eventuell einmal Gebrauch finden können, schließlich weiß man ja nie, nicht wahr? Doch wahr! Bücher – Lexika und Bestimmungsbücher, Fachliteratur jeglicher Art kann immer wieder zu Rate gezogen werden. Ohne an der Stelle die gute Torte mit der sündhaften Extraschicht Dualismus zwischen digitalen und analogen Medien anzuschneiden, was das Kuchenblech mit Sicherheit in Einzelteile sprengen würde, können digitale Medien für ein Bücherregal sorgen, das nur ansatzweise den Regeln des Minimalismus näher kommt.
Vielerlei kann man online recherchieren, ohne dabei zum Buch greifen zu müssen. Zu unterscheiden gilt die Funktion des Buches:
Ist es ein funktionaler oder emotionaler Wert, der uns daran hindert, uns davon zu trennen? Diese Fragestellung kann man auf so ziemlich alles anwenden, wobei ich persönlich der Überzeugung bin, dass unentwegt Emotionen beteiligt sind und nur die Intensität dieser bzw. die Art der Emotion darüber entscheidet, ob wir einen Menschen oder Gegenstand als funktionierendes „Ding“ betrachten und entsprechend rational damit umgehen oder eben jenseits der rationellen Norm dieses Etwas schätzen und uns damit besser / vollkommener fühlen.

Die Zukunft ist ungewiss. Man kann sich nie sicher sein, was kommt und nur blasse Vorsorge treffen – Gott sei Dank! Ein Entsorger gilt im Gemeuchel von „Konservierern“ als achtloser, rational handelnder Zeitgenosse. Umgekehrt gilt ein Konservierer im Kreuzfeuer der Kritik eines Entsorgers als Messie, dessen Wohnung der Hort tausender ungenutzter Gegenstände sei.
Wie immer im Leben weilt das goldene Mittelmaß – so omnipräsent wie der Himmel – über uns. Wie immer ist es eine höchst individuelle Kunst, aus jedem Extrem das eigene Optimum herauszuschöpfen. Ob eine überschäumende, stark personalisierte Behausung mit etlichen Boten der vergangenen Tage nun als angenehm oder erdrückend empfunden wird oder eine asiatisch angehauchte, steril gewirkte Behausung mit minimalistischem Charakterzug als angenehm oder ungemütlich, das ist der Leitpfosten dieser individuellen Kunst, für sich selbst die beste Balance aus dem Zuviel und dem Zu-Wenig herzustellen.
Ebenso hat der Himmel/ das Äquivalent eines Mittelmaßes in diesem Beispiel einen Gegensatz, die Erde, wodurch er sich erst als Himmel angrenzen kann (Personalisierung beabsichtigt ;) ). Diese Erde steht im Beispiel stellvertretend für die beinharte „Realität“.

Ein minimalistischer Exkurs in die Weiten der Biologie: Während der Mensch und mit ihm jedes Tier (allerdings instinktiv und unbewusst) also mit dem Kopf in den Wolken schwebt → Ausgewogenheit herstellen und Mittelmaß finden/ einhalten, stehen wir alle mit den Füßen auf der Erde und sind den Konsequenzen unserer himmlischen Theorie des Mittelmaßes ausgesetzt.
Der Kampf ums nackte Überleben heißt in dieser Hinsicht: Wer langfristig das günstigste Mittelmaß auserkiest, hat bessere Überlebenschancen, während Artvertreter mit ungünstigem Verhältnis von Faktoren eher schlechte Karten haben und ausselektiert werden.

Was lernen wir daraus? Klar: Es kommt immer darauf an! Doch worauf kommt es denn jetzt an, verdammt nochmal? Um den Cholerikern ihren Zahn zu ziehen noch einmal zusammenfassend:
Jeder Mensch ist individuell und hat dementsprechend individuelle Bedürfnisse. Grundlegend (Bsp. Erde) haben Menschen die gleichen Bedürfnisse, nur sind eben Feinabstufungen, kleinste Nuancen dieser Bedürfnisse intrinsisch. Was bei einer Person, um auf die Wohnung zurückzukommen, als überladen und kitschig empfunden wird (hier: ungeachtet der Ursache dieses Empfindens), kann bei einer anderen Person gerade das richtige Maß an Personalisierung und Masse von Dingen sein. Ob man sich nun einen Mischling zulegt oder einen Rassehund, beim Interieur Wert auf Stiltreue und Einheitlichkeit legt oder eben nicht, das ist die Kunst des Einzelnen.
Sich von diesen Gegenständen zu trennen, ist nur dann einfach, wenn es einen passablen Ersatz gibt, wenn nicht sogar einen besseren. Dieser Ersatz kann auch nur die schlichte Lücke sein, die entsteht. Diese Lücke, das Fehlen von einem Menschen/ Objekt kann angenehmer sein, als der unsägliche Zustand zuvor, kann aber auch einfach als Lücke akzeptiert werden, die nicht gefüllt werden muss, da man feststellen musste, dass es nicht immer einem Füllen dieser Lücken bedarf.
Erinnerst du dich noch an die Torte?

Nach dynamischem Umherschwirren zwischen den Wolken der Metakognition ist es sehr individuell, wann wem zuerst der Treibstoff ausgeht, sodass man wieder auf dem Boden der „Realität“ ankommt und eine Platte auflegt, um den Sinnesorganen auch wieder eine Chance zu geben, zu verkünden, wie wunderbar doch das Hier und Jetzt ist. Und genau dann ist Zeit für ein Stück Kuchen! Auch eine Frage der Perspektive ist nur Ansichtssache

Interne Verweise

Kommentare

19. Dez 2017

Sehr lebendig und informativ geschrieben. Überaus anregend und lesenswert. Klasse.
So ist für mich Trennung ein dynamischer Lebensprozess, als Zeit, die unentwegt weiterschreitet. Denn just in diesem Moment habe ich mich von dieser Minute trennen müssen. Im Takt des Uhrwerks trägt mich die Zeit weiter als vierte Dimension. Und dieser Wunsch, den Goethe im Faust verewigt hat - "Verweile doch! du bist so schön!" - bleibt ein alter Menschheitstraum.
Danke für den ausgezeichneten Essay.

LG Monika

29. Dez 2017

Vielen Dank für das Feedback, liebe Monika. Bin bei diesem Lob und der guten Kritik beinahe vom Stuhl gefallen. Der Vergleich mit Goethes Faust ist wirklich sehr treffend. Der Traum von Ewigkeit und Beständigkeit ist wohl fester Bestandteil eines jeden Menschen, das Loslassen jedoch ist eine Kunst, das Loslassen von so vielem im Leben.
Einen guten Rutsch, auf dass wir uns vom Jahr 2017 trennen können und somit einen wunderbaren, ereignisreichen Lebensabschnitt in Erinnerung behalten, während das Vordringen ins große Unbekannte (2018) nun bevorsteht. :)
LG Lisa-M.