wieder einmal

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von Susanna Ka

Siehst du den Vollmond, liebste Schwester,
siehst du sein blaues Licht?
Siehst du, wie es durch die kahlen Äste wandert,
sich im nassen Asphalt bricht?

Erinnerst du dich an die Zeit, als wir noch Kinder waren? An unseren ersten Vollmond? Wir saßen mit unseren Eltern am Rande der Großen Wiese und bewunderten die leuchtende Scheibe am Nachthimmel. Unzählige weiße Blütenkelche hatten sich geöffnet und reflektierten das blaue Licht, das von dort oben kam. Insekten summten und ein schwerer süßer Duft reizte unsere empfindlichen Nasen. Um uns herum raschelte und wisperte es, scharrte und grunzte, ein Eichhörnchen keckerte leise. Als wären alle Tiere des Waldes zur Großen Wiese gekommen, um dem Mond Ehre zu erweisen. Unsere Eltern hoben die Köpfe und stimmten ein melodisches Heulen an. Zaghaft fielen wir ein, mehr fiepend als heulend, in schrägen Tönen, aber es dauerte nicht lange und wir trafen die Tonlage unserer Eltern. Ein vielstimmiger Gesang von den Hügeln ringsherum antwortete uns.
Später warst du die Leitwölfin, und als du dich an der Pfote verletzt hattest, war ich es, die deine Welpen zur Großen Wiese führte, und sie das Heulen lehrte.
Heute habe ich selbst ein Kind. Wie so oft sitze ich an seinem Bettchen und bewache es. Ein einzelner Mondstrahl hat sich durch die zugezogenen Gardinen geschlichen und wandert über den Körper meines Sohnes. Der Kleine bewegt Arme und Beine im Schlaf, als wären es Läufe. Sein Körper spannt sich, diesen Mondstrahl zu fangen. Dazu winselt er aufgeregt wie ein Welpe.
Wir geben unser Gen weiter, liebste Schwester, von Generation zu Generation. Und wir alle hoffen, dass wieder einmal eine Zeit kommen wird, in der wir gefahrlos unsere ursprüngliche Gestalt annehmen können. Doch heute Abend habe ich in den Nachrichten gehört, dass die Schäfer und Landwirte, die Politiker, ja selbst die Naturschutzbeauftragten, unser Volk zum Abschuss freigeben wollen. Wieder einmal.

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