Der Wechsel, für zwei Wochen, wegen Frau Henkenhafs Urlaub, zu Herrn Leiser bringt gar so viel Neues nicht. Außer, dass wir hören, dass auch Herr Leiser zuvor im Urlaub gewesen war und Frau Henkenhaf seine Maßnahme für behinderte Arbeitsamt-Arbeitslose, also dieses Mal nicht die Jobcenter-Fälle, da betreut hätte. Diese Anwesenheitsstunden in anderen Kursen gestatteten ihr, nun tatsächlich den Teilnehmern, die mehrere Fehltage angesammelt hatten, die angedrohten Zeitrückgabetage abzuverlangen.
Herr Leiser trägt dieses Mal nicht sein jugendliches Kapuzenhemdchen mit den weißen Bändelchen, sondern eine gepolsterte, ärmellose Weste, Marke Angler oder Antarktis, in der er, aufs Mal, wie ein nah am Zittern gebautes Alterchen erscheint. Sein Gesicht aber ist tiefbraun, auch im Urlaub muss er reichlich mit seinem Fahrrad unterwegs gewesen sein. Auffällig vor allem dieser ganz frische, gemixt dunkel und graue Kinnbart, dem er sich streichelnd und zupfelnd zuwendet wie der Denker von Rodin, wohingegen jener allerdings noch bartlos gewesen ist.
Unsereiner Wenigkeit kennt Herrn Leiser von früher schon, dazu ein anderes Mal etwas mehr, geben wir zuerst den allgemeinen Eindruck wieder: Man weiß nicht so recht, was das für einer ist.
Die ersten beiden Tage lässt er mit einem exorbitant verlängerten „Blitzlicht“ in der, im Übrigen unfassbar vollzählig versammelten, Runde angehen. Anschließend geht es dann um Taubstumme, von denen Pädagogen und Betreuer Jahrzehnte nie begriffen hätten, dass man sie zum Sprechen nicht zwingen kann, vielmehr muss man sie lassen, wer sie sind, muss selbst sich auf ihr Terrain begeben, ihnen entgegen gehen, das Gebärden erlernen. Und, wie wir jetzt allmählich merken sollen, ist das ein Bild für überhaupt sozusagen alle Benachteiligten in der Gesellschaft, sogar uns, die wir da sitzen, die langzeitarbeitslosen Schwerbehinderten.
Später oder am anderen Tag geht es dagegen ... aber dort scheinen wir gedöst zu haben, wie uns gerade aufgeht.
Im Anschluss an die Pause werden sofort die Laptops aus dem Schrank ausgegeben. Und von da an müssen, wie auch bei Frau Henkenhaf, sobald der Internetanschluss eingeloggt ist, die restlichen Stunden bis, bei Leisern glücklicherweise nur, 16 Uhr an der Tastatur schweigend abgesessen und erschlagen werden. Fast könnte man auf die Idee kommen, in dem ihm fremden Kurs Frau Henkenhafs wollte Herr Leiser sich größerer Arbeit eher enthalten, den Leuten die Chance zum Hängenlassen einstweilen noch zugestehen.
Aber genau dieses täuscht ja. Unablässig rennt Herr Leiser von einem Teilnehmer zum anderen, wobei es ihm gelingt, mit psychologischer Charakterkunde oder Telepathie, die am meisten Desorientierten sich herauszupicken. Jene, denen man Viertelstunde um Viertelstunde um Viertelstunde noch immer mit Computern was vormachen kann. Windows, E-Mailen, sein Kennwort beantragen. All dies ist unverzichtbar fürs Oberthema der zwei Leiser-Tage: unsere Ausschau nach freien Stellen.
Die Jobbörse, ein von jedermann kostenlos zu nutzendes Angebot der Bundesagentur für Arbeit, erlaubt, genau den Job abzufragen, den wir gern hätten. Sagen wir hier Schweißer in Dingolfing. (Wenn Sie es selbst probieren wollen, tippen sie Jobboerse mit oe ein.) Die allermeisten der Angebote wurden von den Arbeitgebern und Zeitarbeitsfirmen ins System eingespeist, scheinen wochenlang von keinem menschlichen Auge bei der Bundesagentur begutachtet worden zu sein. Da lesen wir: „Verdienen Sie 3000 Euro im ersten Monat mit Telefonieren von zu Hause. Zwanzig Arbeitsstunden in der Woche. Bewerbung über die Datenmaske. Geben Sie Ihre Bankverbindung ein, damit wir anfallende Materialunkosten vorab verrechnen können.“
Jeder von uns Teilnehmern kann sein persönliches Bewerberangebot hinterlegen, kann für sich die eigene Vermarktung selbst programmieren, mit Foto, Adresse, Telefonnummern, Lebenslauf, Scans von den Zeugnissen, außerdem einer Auflistung seiner Schlüsselqualifikationen. Ein „Jobagent“ lässt sich einstellen, dass er sogleich eine Mail schickt, sobald ein zum Profil kompatibles Angebot auftaucht.
Man muss, damit das läuft, zuerst sein Kennwort abgerufen und geändert und dann noch mal eingegeben haben. Das müssen hier alle tun, auch die, die zu Hause keinen Computer haben und die noch nie im Internet waren. Herr Leiser setzt sich neben die Leute und bleibt an ihrer Seite, bis alles auch bei ihnen klappt.
Auch die Motivationsanschreiben, ihren Flirt mit dem künftigen Arbeitgeber, wollen Teilnehmer in pdf-Form noch hochladen, doch kann nicht jeder so toll formulieren wie wir hier - und kennt nicht alle Regeln der Kommasetzung. Also sagt ihnen Herr Leiser jetzt vor. Man muss sagen, das macht er gut.
Allerdings besagt dies, dass die allermeisten Kursteilnehmer längst nichts mehr zu machen haben und zwei Tage im Kursraum mit digitalem Däumchendrehen absitzen. Aber die wirklich interessanten Internetseiten sind gesperrt. Herr Leiser schweigt. Er kritisiert nie einen, der wegnickt. Wir sitzen heute drüben in Herrn Leisers eigenem Klassenzimmer, wo im Raum verteilt die Tische noch stehen, kein Henkenhaf’scher Stuhlkreis. Man kriegt ein wenig mit, was die anderen treiben, und man unterhält sich ein wenig.
Einmal sagt Leiser knapp vor der Pause, nachher müssten wir mal was anderes anfangen, immer Laptop, das tötet den Geist. Nach dieser Pause sitzen alle schon wieder ganz stille und stecken ihre Köpfe ins (eigentlich ja gesperrte) Internet. Da erwähnt Herr Leiser nicht mehr, dass wir was anderes anfangen wollten.
Herr Leiser ist aus anderem Holz als Frau Henkenhaf geschnitzt, sozusagen Rhetor und Volkstribun, er braucht ein Volk der Israeliten für seine mosaischen Auftritte. Eben sagte er noch zu einem der Teilnehmer, bei dem er saß: „Und da ist es auch schon fertig und wir schicken’s gleich ab. Das ist gut geworden.“
Jetzt reißt er die Stimme und seinen Kopf hoch übers Meer der Gebeugten: „Aber es ist doch sinnlos!“
Gott, fragen wir uns, hat er das gesagt, dass es sinnlos ist, hat er das gesagt?
„Es ist ... für alle, bitte, hören Sie jetzt her ...“, lauter und immer lauter, große Emphase, „es hat keinerlei Zweck, ewig diese eine Sache zu wiederholen, die Sie hier Tag für Tag tun! Zeitungen studieren, nach den Anzeigen schauen, Stellen raussuchen, Anschreiben verfassen, Bewerbungsmappen versenden! Das kann nichts mehr bringen. In der jetzigen Zeit wird die Arbeit nicht mehr auf dem klassischen Weg vergeben. Darüber gibt es Studien, das ist untersucht. Moderne Arbeitgeber gehen nicht so vor. Gut, in ein paar Fällen vielleicht. Wenn der Kittel brennt, kann ich auch mal eine Anzeige schalten.“
Herr Leisers Blick dürstet nach Empörung, Aufruhr oder Widerstand. Doch immer weiter starren alle, einzeln für sich, in ihre Laptops hinunter.
„Wie werden heute die Stellen denn besetzt?“
Schweigen.
„Über den verdeckten Arbeitsmarkt. Fast nur verdeckter Arbeitsmarkt! Was ist der, der verdeckte?“
Alle schauen weg und beißen die Zähne zusammen. Herr Leiser traut sich nicht, einen zu picken. Die Tafel, auf der er sich die Namen von Henkenhafs Kursteilnehmern notiert hatte, hängt im Raum nebenan.
Verdeckter Arbeitsmarkt ist, laut Leiser, die meisten Stellen werden an Leute vergeben, die in der Firma drin oder ihr zumindest länger schon bekannt waren. Die bessere Stelle kriegst du, indem du den Bedarf nach ihr erst erschaffst auf einer Stelle, die du vorher schon hattest. Das geht bei langjährig Behinderten ohne Arbeit schwerlich.
„Was wir treiben, ist eine Tombola“, ruft Herr Leiser, „so was macht keiner mehr!“
Doch es gibt die Rettung, Herr Leister packt eines von den Gelbe-Seiten-Telefonbüchern, die es nur bei ihm im Kursraum hat. Dieses sei die Chance, einen Arbeitgeber zu finden, der die Qualifikationen benötigt, die man ihm geben kann. Man muss ihn zuerst, quasi offensiv, daran interessieren, dass es einen gibt. Also keine Mappen verschicken, sondern Telefonselbstmarketing! Zuerst den sympathischen Eindruck, dann eine Kostprobe in Gestalt eines vorläufigen Praktikums, hierbei das Reinkommen übers Menschliche.
Null Reaktion im Kurs.
Anschließend machen wir weiter mit unseren Lebensläufen und den Kompetenzprofilen auf zwei Seiten, laden Lichtbilder hoch, fügen Ausbildungsnachweise bei, tunen Motivationsschreiben, schicken frische Mails. Bis Feierabend, 16 Uhr, statt, offiziell, 17 Uhr. (Bei Frau Henkenhaf 16.35 Uhr.)
Anderntags, aufs Thema zurückkommend, Herr Leiser:
„Beim ersten Mal klappt es nie. Auch der zweite oder dritte Versuch haut nicht hin. Aber, das verspreche ich Ihnen, wenn Sie mit hundert Chefs persönlich gesprochen haben, haben Sie Ihre nächste Stelle gefunden.“
Das Übrige werde, in zwei Wochen dann wieder, Frau Henkenhaf mit uns durchnehmen.