Zwar hatte Timo verkündet, ab sofort werde er verschärft nach einer eigenen Wohnung und einer Arbeit suchen, er hatte in Peters Beisein im „Wochenecho“ geblättert, einem Gratis-Anzeigenblatt, aber jedes Mal ließ er es auf den Boden fallen mit etwas von dieser Art: „Wieder nichts! So ‘ne Scheiße!“ Peter hatte die Stellenangebote im „Wochenecho“ darum nachgesehen, Timo auf Stellen für Verpackungshelfer oder Hilfskräfte in der Lagerwirtschaft hingewiesen. Die seien von Zeitarbeitsfirmen, zu Leihfirmen gehe er niemals, die würden einen bloß bescheißen.
Peter gab ihm Comic-Hefte, die sich irgendwann zu ihm verirrt hatten. Aber die Bilder konnten den Jungen nicht einfangen. Der Mann probierte einige Männerakt-Bildbände aus, sie waren teuer und sein Stolz. Der Junge blätterte gelangweilt. Magere Buben in Badehosen oder Turn-Shorts, mehrdeutig grinsend. Nichts sei da dran, nicht mal vernünftige Schwänze hätten die.
Danach lag er im Sessel vergraben wie einst schon im Mai, die Augen zu, hörte wieder überlaute Popmusik, für Stunden dieselben zwei oder drei CDs. Dieser Frühling war trocken und heiß geworden. Bald war Timos Aufzug auch der wie vor zwei Jahren schon, nämlich nur noch Slip und seine grausigen Do-it-yourself-Tätowierungen, sonst nichts.
Peter bearbeitete ihn, sie könnten doch mal in den Ziegelei-Park raus. Der Park lag fern am Rand der Stadt. Mit Bekannten aus Timos früherem Leben war dort wohl nicht zu rechnen. Der Mann packte zwei Dosen Cola in die Stofftasche. Im Vorbeigehen bemerkte er die aufgerissenen Augen seiner Bäckersfrau durch das Schaufenster der Bäckerei.
Für die Landesgartenschau hatte man in eine ehemalige Tongrube viel reingesteckt. Der See war kleiner und manierlich geworden, von Rasen, Blumen, Wegen und Bänken eingefasst. Ein beinahe stehendes Rinnsal schlich vom Teich her und verschwand einige Meter später in der Kanalisation. Das hatte es gebraucht, damit auch eine chinesische Holzbrücke inszeniert werden konnte.
Sie tranken aus ihren Dosen. Zwei große und drei kleine Enten trieben herbei und schienen auf Futter aus.
„Guck mal! Guck mal!“
So unbefangen hatte er den Jungen erst selten erlebt.
Eines von den Kleinen war untergetaucht und schüttelte sich. Die Familie hatte sich abtreiben lassen. Das Kleine machte sich mit voller Kraft auf Verfolgungsjagd. Der Mann lachte und sah sich vorsichtig um. Den Kleinen hätte er gern auch mal unter freiem Himmel im Arm gehalten.
„Warst du hier mal?“
„Nöö. Ist schön, gell?“
„Ja, schön. Wir sollten das öfter machen. Wir können was mitnehmen und mal im Wald grillen.“
Peter schlug etwas vor, was er seit seiner Zeit bei den Eltern nie wieder erlebt hatte.
„Guck, das meint, es kann fliegen!“
„Überlegst du dir vielleicht, ob du es mit deinen Leut nicht doch wieder probierst?“
„Was soll ich da probieren?“
„Na, dass du zu denen ziehst. Wär doch sinnvoller, als mit älteren Schwulen seine Zeit totzuschlagen.“
„Meine Familie hab ich aber ja nicht mehr. Meine echten Eltern sind doch beide tot.“
„Quatsch! Das brauchst du mir nicht auftischen! Das weiß ich noch sehr gut, wie du mir erzählt hast, dass dein Vater beim Birklemeier schafft und deine Mutter alten Leut den Haushalt macht. In Kirchhausen draußen ja auch. Bruder und ‘ne Schwester hast du außerdem auch noch, ich merk mir so was nämlich.“
„Die Eltern von mir sind tot. Von was du es da hast, das sind die Kinder von den Adoptiveltern, also nicht vom selben Blut wie ich.“
„Du lügst mich an! Ich weiß es noch genau, was du damals gesagt hast. Ich hab sie später im Telefonbuch nachgeschaut.“
„Da stehen diese Leute drin, die mich adoptiert haben, wie die echten Eltern tot gewesen sind. Die heißen auch so, weil es halt Verwandte sind. Aber mein Vater und meine Mutter, die sind zusammen umgekommen auf der Autobahn, wo ich zwölf war. Auffahrunfall, zackbumm, tot auf der Stelle, alle zwei. Er ist der Onkel, der mich dann angenommen hat. Zu denen geh ich nie wieder. Die haben mich geschlagen wie einen Hund und gefoltert. Die haben mir gesagt, dass ich in Knast einfahr und dann ist’s wirklich so gekommen, wie sie es gesagt haben. Die sehen mich nicht wieder. Die echten Verbrecher sind ja die, aber die sperrt nie einer ein. Du weißt nicht, wie die mich immer abgeschmiert haben. Im Stall draußen war ich angebunden und hab nichts zum Essen gekriegt, damit ich denen folg. So eine Familie ist das nämlich. Meinen Hund haben die vergiftet, weil sie gemerkt haben, dass ich den noch liebhaben kann.“
„Mein Gott, ist schon gut! Also wenn es so ist, lässt du das sein mit denen. Du musst es aber dennoch irgendwann gebacken kriegen, dass du mal auf eignen Beinen stehen kannst.“
Sie sahen aufs Wasser hinaus. Die Entenfamilie war verschwunden, obwohl der See recht winzig war und seinen Schilfgürtel von früher nicht mehr hatte.
Timo kickte die Cola-Dose ins Wasser. Peter wollte was sagen, er verkniff es sich.
„Timo, sag mal, du, Entschuldigung, musst nicht antworten, bist du von irgendwem je missbraucht worden?“
Der Junge ignorierte die Frage.
„Wie, du meinst das so, einer hat sich sexuell an mir vergangen, wo ich noch klein war?“
„So in der Art etwa.“
„Das nicht. Sonst haben die aber alles gemacht mit mir, sonst haben die eine Gnade mir gegenüber nie gekannt.“
„Hm aha.“
Sie gingen auf dem Gras zum Maschendrahtzaun hinüber, der das Areal begrenzte. Dort stand ein Baum mit knorriger Rinde. Timo ließ sein Messer aufschnappen und warf es gegen den Stamm. Es prallte weg und fiel herunter. Timo hob es auf und warf es immer wieder. Nach dem fünften Versuch blieb die Klinge endlich stecken und wippte ein wenig.
„Versuch du es mal!“
Das Messer prallte auch bei ihm ab und fiel.
„Das sollt ich dich ja noch lehren, wie du dich wehren kannst. Los, das üben wir jetzt.“
„Nee du, letztes Mal hab ich das Brustbein zwei Wochen noch gespürt.“
Der Junge steckte das Messer weg, hechtete wie als Shaolin-Kämpfer durch die Gegend. Schuhkappen bohrten sich in die Eier aller Feinde.
„Ha-jau“, jaulte Timo.
„Da drin bist du echt gut. Da weiß ich nicht, wie du vor diesen Verfolgern Angst haben kannst. Du legst sie doch flach.“
„Gell, guck jetzt her!“
„Jetzt bist du dran, verteidige dich, Mann!“
„Nein, hey, Timo, lass es! Ich mach da nicht mehr mit.“
Sofort fiel der Junge ihn an.
„Was ist? Lässt du dich zusammenhauen, wenn im Park einer was will? Rufst du, hey, lass mal, ich mach da nicht mehr mit bei sowas?“
„Timo, ich bin jetzt vierzig und ich bin dick. Du kannst das gut und ich kann es eben nicht.“
„Und dann im Park? Hä, was denkst du?“
„Ich hab immer Tränengas mit und ich hab’s noch nie gebraucht.“
„Zeig!“
„Hab ich hier nicht dabei.“
„So eins?“
Er zog eine Sprühdose heraus, die schüttelte er.
„Guck, so tut das.“
Er sprühte weg von ihnen. Ein zartes Fähnchen flötete aus der Düse.
„Nachteil, dass du’s ins Gesicht kriegen kannst oder sie reißen dir‘s weg und setzen es gegen dich ein. Jetzt zeig ich dir, wie du sie weghaust.“
Er machte vor, wie man einen Angriff abfälschte, seinen Gegner in den Schwitzkasten brachte, ihn über den Fuß fällte. Der Lehrer blieb lustlos. Ziemlich weit weg gingen ein paar Leute, aber sie kümmerten sich nicht um sie.
„Verdammt!“
Übers vorgestellte Bein war der Mann ins Gras geplumpst wie ein schwerer Sack. Flecke an der Hose und sofort zog es auch sehr verdächtig in der Beinmuskulatur.
Sie gingen zurück nach Hause und mit jedem Schritt nahmen die Schmerzen zu. Dem Jungen ging’s immer noch prächtig. Einen ihm eigenen, sehr unkonventionellen Kampfstil sei er am Entwickeln, behauptete er. Peter überlegte sich unterdessen, ob er ihm nicht jetzt eins auf die Nase hauen könnte, wo er auf Feindschaft gerade mal nicht eingestellt war. Das Moment der Überraschung einsetzen.