Monsieur, aber wo ist das Leben? (1)

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von Monika Jarju

Mit wehendem Wintermantel kam er auf sie zu. Sie sahen einander in die Augen. Und gingen aneinander vorbei. So einen stelle ich mir, die Hälfte von dem, dachte sie. Er grüßte. Sie blieb stehen. „Ja, Sie meine ich.“ Er winkte ihr zu. Sie blickte hinter sich, da stand niemand.
„Wir kennen uns doch von irgendwoher? TAM-TAM, nein, ABRAXAS?“ – „Möglich“, sagte sie. „Na also, wir haben miteinander getanzt“, stellte er zufrieden fest. Sie schüttelte den Kopf. „Gemeinsamer Bekanntenkreis?“, fragte sie. „Unwahrscheinlich“, meinte er und stellte sich vor, „Roger.“ Er sprach seinen Namen französisch aus. Sie sah Rocher vor sich, gold verpacktes Konfekt, rund wie er. Plötzlich hatte sie den Geschmack auf der Zunge. Zaghaft wiederholte sie seinen Namen. Er nickte. Sie starrte auf das Leopardenmuster seines Hemdes.
Wie kamen sie bloß auf die Demo vom Vortag? Alle um sie herum hörten aufmerksam zu. Der Zug kam. Gemeinsam stiegen sie ein. „Wohin fahren Sie, darf ich Sie ein Stück begleiten?“ – „Gern“, sagte sie. „Wir könnten weiterreden“, schlug er erwartungsvoll vor. „Wir könnten auch ein anderes Mal weiterreden“, bot sie an. Er strahlte sie an und griff nach ihrer Tüte, den Blumen, der Tasche. Sie kramte einen Kugelschreiber hervor. Unter Blumen, Tasche und Tüte zog er einen Zettel aus seinem Mantel. Schwungvoll schrieb er Namen, Telefonnummer und E-Mail-Adresse in ihr Notizbuch. Das würde sie nun keinem mehr zeigen können, dachte sie irritiert.
Der Zug hielt. Sie stiegen aus. „Rufen Sie mich jetzt an“, bat er und hielt sein Handy ans Ohr. Schweigend betrachtete er die Reihe afrikanischer Namen auf dem Display ihres Handys. Sie tippte seine Nummer ein. „Klappt“, sagte er zufrieden, als es klingelte.
„Also, ich bin von der Elfenbeinküste, lebe seit über zehn Jahren hier und habe die Nase voll von dem Land. Aber wo kann ich hin? Wo ist mein zuhause – und wo ist das Geld?“ Er zuckte die Achseln. „Ich bin nicht mehr der Gleiche“, seufzte er. „Nach Dakar.“ – „Auf keinen Fall, der Präsident unterstützt die Regierung an der Elfenbeinküste“, erwiderte er. „Europa mischt sich überall ein, vor allem die Franzosen, fast wie vor der Unabhängigkeit“, warf sie ein. „Sie haben es erfasst, die Franzosen bestimmen zu viel.“, sagte er. „Die meisten Produkte in Westafrika kommen aus Europa, es gibt wenig Industrie“, bemerkte sie, als sie an die Kreuzung gelangten. Er stellte sich vor sie hin. Stumm starrten sie einander an, bis die Ampel auf Grün schaltete.

- Fortsetzung folgt -

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