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Ich war zwölf, vielleicht dreizehn Jahre alt. Wir waren auf Klassenfahrt im Nirgendwo, aber es war aufregend, weil wir nicht zuhause waren und die Lehrer die Zügel locker ließen. Alle Jungs unserer Klasse waren in Annemarie verliebt. Ich auch. Ich war verliebt in ihr rundliches Gesicht, die großen Augen, die immerzu strahlten und ich war in ihren für mich goldenen Teint verliebt, der draußen in der Sonne besonders zur Geltung kam. Es waren die Neunziger und die Mädchen kleideten sich für heutige Verhältnisse meist dezent und selten aufreizend. Annemarie trug in diesem Sommer jedoch häufig eine kurze, ausgefranste Jeans und machte uns mit ihren schönen, gebräunten Beinen fast verrückt. Mehr noch als Hannah, die bereits Busen hatte. Wir Jungs hatten nur Augen für Annemarie, für ihre Haut, ihre Augen und ihr blondes, langes Haar. Unter uns redeten wir ständig über sie, jede Aussage, jede Geste von ihr wurde analysiert wie ein Drama im Deutschunterricht. Wen von uns mochte sie wohl leiden, wer würde der Auserwählte sein?
Ich versuchte es fast ausschließlich über Augenkontakt und ein dezentes Lächeln. Am frühen Abend spielten wir mit unserem Klassenlehrer ein Spiel im Stuhlkreis. Man musste koordiniert und im Takt in die Hände klatschen und konnte zwischendurch jemand anderen aufrufen. Wenn man dem Rhythmus nicht folgen konnte oder beim Aufrufen einen Fehler machte, kriegte man vom Mitschüler, der einen vorher aufgerufen hatte, einen Dubbel aus Hautcreme ins Gesicht: auf die Nase, auf die Stirn, auf die Wangen und aufs Kinn. Ich rief Annemarie solange und so häufig auf, bis sie einen Fehler machte. Ich durfte ihr einen Dubbel auf die Nase setzen. Ich schritt auf sie zu, sie lachte, ich lachte, wir strahlten uns an. Der Moment, in dem mein dick eingecremter Finger ihre Nase berührte, hat sich tief in mein Gedächtnis gebrannt. Diese Unschuld, diese Freude, dieses zaghafte Aufkeimen meiner Sexualität.
Am Abend durften wir alle im großen Schlafsaal übernachten. Die Lehrer erlaubten uns, unsere Decken, Kissen und Bettlaken zu holen. Wie zufällig schlief ich in der Nähe von Annemarie ein. Wir lagen Kopf an Kopf, aber nicht nebeneinander. Als das Licht ausging, fanden sich unsere Hände wie zufällig und wir berührten uns. Gelegentlich traute ich mich, ihr durchs Haar zu fahren. Die ganze Nacht spürte ich einen wohligen Strom, der mich elektrisierte, faszinierte und verwirrte. Ist das Liebe? fragte ich mich. Jedenfalls wollte ich nicht, dass es aufhört und ich wollte nicht einschlafen. Tat ich auch nicht.
Obwohl meine Gefühle für Annemarie diese eine Nacht und eigentlich meine gesamte Schulzeit überdauerten, kam es zu keiner weiteren Annäherung. Annemarie verliebte sich in andere Jungs, ich litt still und heimlich. Aber wenn ich neben ihr saß, wenn sich unsere Knie, Hände oder Arme berührten, dann fühlte ich ihn wieder, diesen elektrisierenden Strom, der meinen gesamten Körper ergriff. Wenn sie mir dann noch in die Augen schaute, war ich für einen Moment auf wundersame Art und Weise verloren.
Milan Kundera hat einmal geschrieben, dass das Gesicht letztendlich nichts anderes sei als das Armaturenbrett der Körperfunktionen. Aber ich kann mich an kein einziges Armaturenbrett erinnern, das mich jemals so berührt hätte wie das Gesicht eines schönen Mädchens oder einer schönen Frau. Für mich beginnt Liebe und Zuneigung immer im Gesicht des Anderen. Wenn ihr Blick mich durchdringt, wenn ich das Gefühl habe, tief in meinem Innern getroffen und verwundbar gemacht worden zu sein, dann werde ich süchtig nach diesen Augen, diesem Gesicht, diesem Mund und dieser Haut. Dann will ich sehen und sehenden Auges berühren. Anfassen, streicheln, liebkosen und mit allen Sinnen erfahren. Mich verlieren im Anderen, in der Haut des Anderen.
Erst mit einundzwanzig erlebte ich wieder dieses Gefühl. Ich arbeitete in Paris, lebte dort und fühlte mich zum ersten Mal so frei und ungebunden wie damals auf der Klassenfahrt. Ich hatte das enge Korsett meiner katholischen Erziehung an der Landesgrenze abgegeben und das luftige Kostüm eines bonvivants übergeworfen. Ich war übermutig, sprachgewandt und selbstbewusst. Ich ließ mich von einer neunzehnjährigen Dänin entjungfern, blond und vollbusig, aber ohne Sinnlichkeit. Sie rauchte viel und ihre Küsse schmeckten bald nicht mehr. Unbeholfen und barsch beendete ich unsere Beziehung.
Dann kam Nathalie, eine Frankokanadierin. Kastanienbraunes Haar, Stupsnase, smaragdgrüne Augen, Sommersprossen und ein brauner Teint. Wenn sie sprach, verstand ich kaum ein Wort, aber der Klang ihrer Stimme betörte mich. Die Männer des Unternehmens, für das ich arbeitete, betrachteten sie wie Wölfe ein zartes Lamm. Ich hingegen wirkte mit meinen einundzwanzig Jahren noch sehr jugendlich, vielleicht sogar kindlich. Und paradoxerweise nahm ich sie dadurch für mich ein. Sie ahnte wohl, dass ich ein eigentlich verzärtelter Junge mit wenig Erfahrung und viel Sensibilität war. Sie fühlte sich bei mir sicher, weil sie spürte, dass ich nichts gegen ihren Willen tun würde. Und aus diesem Grund, so vermute ich jedenfalls, verschmähte sie die Männer und wählte mich, den Epheben.
Wir schliefen das erste Mal im dunklen Zimmer meiner ‚deutschen WG’ in Neuilly-sur-Seine miteinander. In der Stille des verlassenen Apartments ertasteten wir zunächst sitzend unsere Hände, kreuzten die Finger ineinander, befreiten sie wieder. Dann, langsam, berührten wir die Unterarme des Anderen, ließen unsere zarten Fingerkuppen über die straffe Haut fahren und erfassten jede Regung des Gegenübers wie ein Seismograph. Unsere Gesichter näherten sich einander, unser Atem war feucht und angenehm warm. Als sich unsere Lippen fanden, stießen sie zunächst wie weiche Kissen aneinander, dann forderten sie forsch zum Kuss heraus. Der Kuss wurde dringlicher, die Zungen kamen hinzu, gaben und nahmen. Wild, immer wilder wurde das Verlangen, den Anderen tastend und küssend zu erleben, vorzudringen in das magische Territorium fremder und doch merkwürdig vertrauter Haut. Die Dunkelheit verstärkte die Kraft der übrig gebliebenen Sinne, ich fühlte, schmeckte und roch Nathalie in ihrer ganzen Weiblichkeit. Ein süßes Destillat aus Schweiß, Haut und Haaren breitete sich vor mir aus wie ein Teppich der Begierde. Ich hatte das Gefühl, mich in ihr zu vergraben, unter ihre Erde zu kriechen und dort Schutz zu finden. Noch nie hatte ich eine Frau so erlebt, wahrhaft erlebt, wie an diesem Abend. Noch heute hänge ich in Gedanken weniger dem eigentlichen