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stolzesten Kerle bricht. Dann bin ich nicht Frau Roth, die Altenpflegerin, sondern Salammbô, Kleopatra und Mata-Hari. Ich bin die personifizierte Verführung.
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Satt, sauber, still. Das war die Devise in meinem letzten Pflegeheim. Für mehr blieb keine Zeit. Ein persönliches Gespräch mit einem der Bewohner war absoluter Luxus, eigentlich undenkbar. Acht Tage arbeiten, einen Tag frei, acht Tage arbeiten. Einmal habe ich alle dreiundzwanzig Personen meiner Station alleine versorgt.
Wie gut es mir jetzt im Dreilindenhof geht, merke ich schon beim Frühstück. Manchmal kann ich bis zu einer halben Stunde neben einem der Bewohner sitzen und mich mit ihm unterhalten. Anfangs hatte ich immer Angst, dass die Chefin kommt und mir einen bösen Blick zuwirft. Aber nein. Stattdessen gab es Lob für meine individuelle Betreuung.
Ich unterhalte mich gerne mit Herrn Sander. Ich sitze gerne neben ihm. Während andere sich gelegentlich gehen lassen, kommt Herr Sander stets gepflegt zum Frühstück. Selbst nach seinem Beinbruch, als er mit Rollstuhl zum Frühstückstisch gebracht werden musste, achtete er darauf, frisch rasiert und frisiert am Tisch zu sitzen. Sein After Shave riecht nach alter Schule, herb und männlich.
„Wie geht es Ihnen heute, Frau Roth?“
„Gut, Herr Sander, danke der Nachfrage. Wie geht es Ihnen?“
„Danke, gut. Ich habe die Buddenbrooks fast beendet. Ich lese es zum dritten Mal, aber ich werde dieses Buch nie müde. Kennen Sie Thomas Mann?“
„Dem Namen nach. Aber gelesen habe ich nichts von ihm.“
„Nun ja, es ist auch ein alter Schinken. Genau wie ich. Was machen Sie denn so in Ihrer Freizeit?“
„Ich tanze.“
„Wie wunderbar. Klassische Tänze?“
„Auch, ja!“
„Vielleicht darf ich Sie ja mal zu einem langsamen Walzer auffordern. Einem sehr langsamen.“
„Sehr gerne!“
*
Ich denke noch oft an Julian. Und an den Sex mit ihm. Nie zuvor und nie danach habe ich einen Mann so intensiv gespürt wie ihn. Jedes Mal, wenn wir miteinander geschlafen hatten, versuchte ich, das Erlebte schriftlich zu fixieren. Meine Sicht, seine Sicht. Es war der zum Scheitern verurteilte Versuch, gelebtes Leben einzufangen, zu bewahren, für die Zukunft. Ich wollte bewusst darüber schreiben. Seine Idee, es zu filmen, lehnte ich ab. Ich ahnte, nein, ich wusste, dass eine Kamera unsere Gefühle beim Sex nicht abzubilden vermochte. Was hätten wir gesehen? Hüllen, nacktes Fleisch, plumpes Dekor, aber das Innerste wäre uns auf den Bildern verborgen geblieben.
Manchmal hole ich mein Notizbuch hervor und lese mir aus meinen Aufzeichnungen laut vor: „Alle seine Muskeln waren eins, all seine Kraft war eine Kraft, konzentriert in diesem Körper, in dem er sich selbst fand und wieder verlor, fand und wieder verlor. Alles in ihm drängte nach außen, wie Magma unter einem harten Stein, der nun glühte und schmolz, glühte und schmolz. Dann, plötzlich, explodierte er, wie ein aktiver Vulkan, der Lava spie. Und ich war sein Himmel, in dem sich das flüssige Feuer ergoss, wild, unkontrolliert und frei, so frei. Schließlich entzog er sich mir, abrupt, betrachtete in völliger Erschöpfung und Zufriedenheit das Nachbeben in meinem Körper. Jetzt war ich der Vulkan.“
Mit einunddreißig starb Julian bei einem Autounfall. Er war auf dem Weg zur Arbeit, neben ihm saß ein Kollege. Sie gerieten in einen Stau, hielten an. Ein Sattelschlepper kam angebraust, der Fahrer war kurz vorm Sekundenschlaf und hielt die stehenden Wagen für fahrende. Er fuhr ungebremst auf Julians Wagen auf und presste ihn zusammen. Julian und sein Kollege waren so im Innern des Wagens eingequetscht, dass die Rettungskräfte den Wagen mit ihnen darin abschleppten und sie erst in der Werkstatt aus dem Auto schnitten. Immerhin: Sie waren beide auf der Stelle tot gewesen. Als ich von Julians Tod erfuhr, hatte ich ihn schon über ein Jahr nicht mehr gesehen.
*
Um 10:30 Uhr steht eigentlich die Dokumentation an. Aber in der Regel müssen um diese Zeit die ersten Bewohner auf Toilette. Da das weniger Arbeit macht, als die Kleidung zu wechseln, wenn sie sich einnässen, verschiebe ich die Dokumentation oft lieber auf später und helfe den Bewohnern aufs Klo.
Ungefähr ein Jahr nach seiner Ankunft helfe ich Herrn Sander das erste Mal auf die Toilette. Ich wundere mich, dass es vorher noch nie passiert ist. Aber am Anfang konnte er es noch alleine und nach seinem Sturz hat er es entweder selbst irgendwie geschafft oder sich von jemand anderem helfen lassen. Fast kommt es mir so vor, als wollte er unbedingt vermeiden, von mir Unterstützung bekommen zu müssen.
„Ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten“, ist dann auch das erste, was er sagt.
„Aber Herr Sander“, sage ich sogleich beschwichtigend. „Da ist doch nichts dabei. Und außerdem ist es mein Job.“
Er lächelt mich verlegen an. Er schämt sich. Ich fahre ihn mit dem Rollstuhl, auf den er immer noch angewiesen ist, in sein Zimmer und in die behindertengerechte Toilette. Er schafft es mit meiner Hilfe, sich von den Rollstuhllehnen abzustützen und die Halterung neben dem Klo zu ergreifen. Er hält sich krampfhaft daran fest, während ich ihm die Hose aufmache und diese mitsamt der Unterhose runterziehe. Dann setzt er sich auf die Klobrille und stöhnt erschöpft auf.
„Soll ich bei Ihnen bleiben?“, frage ich höflich.
„Mir wäre es lieber, sie warteten vor der Tür!“
„Kein Problem, Herr Sander. Wenn etwas ist, sagen Sie Bescheid. Ich lehne die Tür nur an.“
Er nickt und schaut mich dankend an. Ich bin gerührt zu sehen, wie wichtig es ihm ist, vor mir seine Würde zu bewahren. Ich bin gerührt, weil ich in diesen Situationen schon ganz andere Sachen erlebt habe. Die meisten Männer, denen ein Leben lang Respekt erwiesen wurde, reagieren empört auf diese vermeintliche Erniedrigung. Sie üben mit ihrer Hilflosigkeit Macht aus. Herr Sanders nicht.
„Sie können kommen“, ruft er nach einer Weile aus der Toilette. Als ich diese wieder betrete, sitzt er angezogen und stolz in seinem Rollstuhl. Ich bin versucht, ihn zu fragen, ob er auch wirklich sauber ist, aber ich bringe es nicht übers Herz.
„Herr Sander!“, sage ich in einem Tonfall der Bewunderung. Er strahlt stolz über das ganze Gesicht.
Ich fahre ihn an sein Bett und helfe ihm hinein. Zeit für die Siesta. Als ich ihn zugedeckt habe und gehen will, ergreift er meine