Herr Sander - Page 4

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muss dann nach Hause gehen.
Als Herr Sander Bewohner war, fühlte ich mich um 13 Uhr wie ein Heranwachsender, der frühzeitig eine Party verlassen muss, weil die Eltern es so wollen. Ich wollte nicht gehen. Ich wollte bei Herrn Sander bleiben. Gleichzeitig verstand ich nicht, was mich an ihm so faszinierte. Hatte ich einen Vaterkomplex? War ich verliebt, fühlte ich mich bei ihm geborgen? Wollte ich an sein Erbe? War ich in sein jüngeres Ich verliebt? Warum beschäftigte er mich so?

*

Julian hatte ausgefallene Ideen. Auch experimentierte er gerne mit verschiedenen Stoffen. Schwarzes, glänzendes Leder erotisierte ihn ganz besonders. Dafür stürzte er sich auch in Unkosten. Er kaufte mir von seinem Ersparten einen Jumpsuit aus Leder mit Wetlook-Effekt. Dazu schwarze, hochhackige Stiefel, deren Schaft bis zum Oberschenkel reichte. Am liebsten mochte er es, wenn ich ganz nackt unter dem Jumpsuit war und ihm beschrieb, wie es sich anfühlte. Wie die harten Nippel meiner dicken Brüste von innen gegen den Stoff rieben, wie ich feucht wurde, wie mein Körper zu glühen begann, wie mir schwindlig wurde und wie ich mich dabei nach ihm verzehrte. Wieder und wieder wollte er bis ins Detail hören, wie mein Bewusstsein sich veränderte und wie ich auf seine Anwesenheit reagierte. Oft ging es darum, den eigentlichen Sex möglichst lange heraus zu zögern, ihn vielleicht sogar gar nicht zu vollziehen. Diese Spannung bis ins Unerträgliche auszudehnen, das war es, was ihn am meisten faszinierte. Der eigentliche Geschlechtsverkehr dauerte dann, wenn er überhaupt passierte, nicht sehr lange. Er öffnete hastig, nahezu wild, den Reißverschluss meines Jumpsuits und drang dann überstürzt in mich ein. Die ganze aufgestaute Energie entlud sich in einem kurzen Moment und erschöpft fiel er dann zu Boden oder auf das Bett.

Die Macht, die ich in diesen Momenten über ihn besaß, faszinierte mich. Ich bekam das Gefühl, dass ich während dieses Liebesspiels alles von ihm verlangen konnte: Geld, Eigentum, einen Mord gar. Dass ich es mit meinem jungen Körper vermochte, einem so gestandenen Mann, wie Julian es mit achtundzwanzig Jahren schon war, seiner Willenskraft zu berauben, ihn mir hörig zu machen, das berauschte mich maßlos. Er war mir ausgeliefert und das wiederum gab mir ein Gefühl unendlicher Stärke.

*

Als ich einen Monat lang Spätschicht habe, passiert es. Ich komme gegen 14 Uhr in den Dreilindenhof und bei der Übergabe wird es ganz sachlich formuliert.
„Herr Sander ist ins Uni-Klinikum eingeliefert worden. Verdacht auf Schlaganfall. Er ist heut morgen aufgewacht und hat über Taubheitsgefühle im linken Arm und in den Beinen geklagt. Die Frau Kröger hat zunächst vermutet, er hätte über Nacht nur ungünstig im Bett gelegen, aber ausgerechnet Frau Nguyen war aufgefallen, dass er etwas lallte und hat sofort darauf gedrängt, einen Notarzt zu rufen. Ich möchte die Gelegenheit nochmal nutzen, Sie alle an das Protokoll bei Schlaganfällen zu erinnern. Typische Symptome sind..“

Ich sitze da wie versteinert. Herr Sander. Mir fällt plötzlich ein, dass ich ihm noch einen langsamen Walzer schulde, einen sehr langsamen. Mir fällt, ein, dass ich sein Foto noch zuhause habe und dass ich es noch zurücklegen muss. Mir fällt das Lächeln des Herrn Sander ein, die Güte und Wärme, die es ausstrahlt. Ausstrahlte.

Ich habe schon viele Menschen mit Schlaganfall gesehen. Ich kenne das Davor und das Danach. Ich sitze also da und hoffe und bete inständig, dass es falscher Alarm war. Plötzlich bin ich so von dieser Nachricht ergriffen, dass ich mich unter dem Vorwand, ich müsse auf die Toilette, entschuldige und mich dann tatsächlich auf dem Klo verschanze. Mir kommen die Tränen und ich muss mir die geballte Faust in den Mund stecken, um nicht laut los zu schluchzen. Wieder wundere ich mich über meine Ergriffenheit. Warum Herr Sander? Was ruft er in mir hervor?

Nach einem längeren Aufenthalt in einer Reha-Klinik kommt Herr Sander tatsächlich zu uns zurück. Zuerst wirkt er wie immer, aber dann fällt mir auf, dass sein Blick sich verändert hat. Früher war da diese Klarheit, jetzt ist da ein nebliger Dunst auf der Iris. Als er mich anschaut, glaube ich, dass er mich erkennt, aber es mag auch einstudiert und reflexartig sein. Er schenkt jedem diesen Blick, selbst Pflegern und Bewohnern, von denen ich weiß, dass er sie nicht kennt. Er sagt keinen Ton, sein Sohn, der auch da ist, meint zu mir, dass sein Vater gemerkt habe, dass er schnell ins Lallen kommt und aus Scham darüber lieber gar nichts sagt. Immerhin, erklärt sein Sohn weiter, die Mobilität sei noch recht gut erhalten, er kann stehen, ein bisschen gehen und die Arme sind wieder beweglich.

Tagelang schleiche ich um ihn herum, beobachte ihn aus der Ferne, gebe Aufgaben, die eine Nähe zu ihm erfordern, aus fadenscheinigen und vorgeschobenen Gründen an Kolleginnen und Kollegen ab. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Manchmal habe ich das Gefühl, dass da noch etwas ist. Die Art, wie er mich ansieht, lang und eindringlich, lässt mich glauben, dass er doch noch weiß, wer ich bin, dass er mich erkennt, wiedererkennt.

Eines Abends, ich habe Nachtschicht und es ist insgesamt sehr ruhig, fasse ich mir ein Herz und gehe in sein Zimmer.

*

Den einen Sommer verbrachten wir in Lacanau am Atlantischen Ozean. Wir hatten über einen Kontakt von Julians Eltern ein kleines Ferienhäuschen direkt am Meer für uns allein. Wir füllten die Tage mit ewig langen Spaziergängen am Strand. Es war ungewöhnlich warm, selbst für diese Gegend. Wir trugen beide nur das Nötigste, und selbst das klebte auf unserer Haut wie ein Klettverschluss. Julians straffer Körper und mein feminines Pendant waren ein Blickfang für die Menschen, denen wir begegneten. Wir waren in der Blüte unserer Jugend, und schlimmer noch: wir wussten es. Wir waren uns der Blicke bewusst, wir spürten das Verlangen in den Augen der Männer und Frauen, die uns beäugten. Die Begierde, die wir auslösten, erzeugte eine noch größere Begierde in uns. Begierde aufeinander. Wir besaßen noch die Scham und den Anstand, nicht am hellichten Tag übereinander herzufallen, aber mit Einbruch der Dunkelheit entstand diese knisternde Spannung, die uns bedeutete: Gleich passiert es.

Die prägendste Erinnerung dieses Sommers war diese Nacht am Meer. Im Schutze der Dunkelheit verließen wir splitterfasernackt unser Ferienhäuschen und gingen ruhig und ohne Hast zum Strand. Hand in Hand liefen wir ins Wasser, empfanden das kühlende Nass wie ein erquickendes Elixier, das uns Kraft für das bevorstehende Liebesspiel gab. Wir liefen zurück, bis wir nur noch in der Gischt standen. Im fahlen Licht des Mondes fanden sich unsere Lippen, verliehen dem aufkeimenden Verlangen ihren ersten, zarten Ausdruck. Als unsere Zungen sich fanden, waren unsere Körper elektrisiert und erregt. Im Einklang mit den Wellen, die sich im Sand verloren, verschmolzen wir ineinander, unternahmen den Versuch, eins zu werden. Wir warfen uns in den Sand, er drang in mich ein und ich spürte die Verkörperung aller Naturgewalten in mir. Ich war so erfüllt und beglückt, dass alle Gedanken sich erübrigten und ich in einen Zustand des Seins überging, den ich als so pur und rein und klar empfand, wie das Wasser, das uns umgab. Ich fühlte mich wie ein Geschöpf, das sich der Zivilisation entledigt hatte und in einen ursprünglichen, fast animalischen Zustand überging, bestimmt und dominiert von der Lust des Fleisches. Ich wollte ihn, Julian, mit Haut und Haaren, und ich bekam ihn, verleibte ihn mir ein, mit Haut und Haaren.

Zurück im Ferienhäuschen schauten wir uns für den Rest der Nacht verliebt und erschöpft an. Aus dem Wunsch heraus, diesen Moment für immer bewahren zu wollen, holte ich meine Analogkamera und machte ein Foto von Julian auf dem Bett. Er hatte den Kopf in die Hand gestützt und schaute nach unten auf den Boden. Eine Strähne von seinem dunklen, vollen Haupthaar hing herunter und fiel ihm in die Stirn. Das schwache Licht des Zimmer verlieh seinem Gesicht eine Wärme und Güte, die mich bis heute glauben lässt, einen Menschen fotografiert zu haben, der mit sich im Reinen ist.

*

Behutsam öffne ich die angelehnte Tür und sehe im abgedimmten Lichtschein der Nachttischlampe das Gesicht eines vor sich hin dösenden Herrn Sander. Ich nähere mich ihm in kleinen Schritten und setze mich auf den Stuhl neben seinem Bett. Unschlüssig darüber, was ich eigentlich will, greife ich mit der linken Hand unter seine Bettdecke und ertaste seine Hand. Als ich sie finde und sanft drücke, nehme ich keine Regung wahr. Herr Sander liegt immer noch ausdruckslos da, und wäre da nicht ein vernehmbares, leichtes Atmen, ich würde ihn für tot halten. Ich drücke ein wenig fester zu, fast so, als wollte ich eine Reaktion erzwingen. Doch anstatt, dass er die Augen aufschlägt und mich anschaut, rutscht er mit dem Kopf nach links auf den Rand des Kissens. Ich stehe auf und beuge mich über ihn, um das Kissen für ihn herzurichten. Ich weiß nicht, ob der Stoff meines Schlupfkasacks oder mein Körpergeruch ihn weckt, aber plötzlich merke ich, wie er sich regt und offenbar die Augen aufschlägt. Bevor ich weiß wie mir geschieht, verspüre ich den überraschend festen Druck seiner Hand an meiner Hand. Ich spüre seinen Versuch, mich an sich zu drücken, mich zu ihm herunter zu ziehen. Seine andere Hand ertastet meinen Schlupfkasack und greift nach meinen Brüsten. Statt in Panik zu geraten, löse ich mich kontrolliert aus seinem Griff und drücke ihn an den Schultern zurück ins Bett.
„Herr Sander“, sage ich kalt und nüchtern, „bitte lassen Sie das.“
Er schaut mich an, aber ich weiß seinen Blick nicht zu deuten. Scham? Angst? Ein Flehen, ein Weinen gar?

Ich richte mich auf, nun doch ein wenig ergriffen von dieser, seiner Unbeherrschtheit. Ich richte meine Kleidung und will gehen. Doch an der Tür drehe ich mich noch einmal zu ihm um. Seine Augen sind immer noch geöffnet, er schaut mich eindringlich an. Ich wende mich wieder der Tür zu, will sie öffnen und kann es nicht. Ich verharre einen Moment in dieser Pose. Dann, instinktiv, schließe ich die angelehnte Tür und gehe zurück zu Herrn Sander. Ich ziehe meinen Schlupfkasack aus, nehme meinen Büstenhalter ab und lege beides über die Stuhllehne. Ich setze mich hin und rücke den Stuhl ein wenig näher ans Bett. Ich nehme die Hand von Herrn Sander und führe sie behutsam an meinen schweren Busen. Sein Gesicht zeigt keine Regung, aber sein Atem wird deutlich ruhiger und gleichmäßiger. So sitze ich da, mit seiner Hand an meiner Brust, vielleicht zehn, fünfzehn Minuten.

Seine Augen fallen zu, sein Kopf neigt sich zur Seite. Er schläft. Leise ziehe ich mich wieder an und verlasse, ohne mich nochmal umzusehen, das Zimmer. Draußen vor der Tür realisiere ich, dass Herr Sander noch ein bisschen leben wird, aber dass ich gerade Abschied genommen habe.

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