Selbstfindung

Bild von Alf Glocker
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Als ich noch ein kleines Kind war, war ich komplett. Die Erde war groß und dunkel, voller Mysterien. Die Menschen um mich herum waren mir fremd. Ihre Gedanken schienen mir eherne Gesetze höchster Weisheit zu sein, einer Weisheit, die ich jedoch nicht zu verstehen brauchte, denn ich konnte sie nicht nachvollziehen. Deshalb hatte sie (diese Weisheit der anderen) überall ihre unantastbare Gültigkeit – außer bei mir. Ich zählte einfach nicht!

Mein Wunsch, mich in die Gesellschaft einzufügen, mich unterzuordnen, war mächtig, denn ich hielt mich nicht für klug, aber die Einfachheit meiner Talente reichte dafür nicht aus, nicht klug zu sein! Eine innere Stimme machte mich unfassbar stolz. Deshalb glaubte ich eine schwarze Seele zu haben, deshalb baute ich eine eigene, schwarze Welt um sie auf. Eine Welt, deren Rechtfertigung darin bestand, daß sie sich, für andere, als nicht betretbar erwies und deshalb auch keiner Rechtfertigung bedurfte. Ich passte mich also, auf meine Weise, an mein Umfeld an, indem ich es schlichtweg ablehnte. Das „Umfeld“ protestierte zwar in Form von Zurechtweisungen und Strafen aber es änderte mich nicht. Denn ich war komplett (verrückt geworden)!

Wenn keiner den andern versteht, entsteht ein Vielparteien-System. Die eine Partei bestand in diesem Fall aus einem kompletten Ganzen = 1 Stimme. Die anderen Parteien setzten sich aus unendlich vielen homogenen Einheiten zusammen, die nur in ihrem – wenn auch aus meiner Sicht höchst eigenartigen – Zusammenspiel funktionierten = (damals) 3 ½ Milliarden Stimmen.

Dann gab es noch die „Geister“, Gebilde meiner Wahrnehmung, die außer mir keiner sah. Sie vergrößerten den Abstand zwischen mir und den anderen Lebenden noch weiter, denn beide Seiten verhöhnten mich. Ich stand in der Mitte, in meinem Reich, das schier zermalmt, aber immer kompletter wurde. Schwierigkeiten, meine Spiegelung auf dem Quecksilber, als das Abbild meiner selbst, zu akzeptieren, gab es keine. Ich war ich – der dort im Spiegel!

Das blieb eine lange Weile so: Ich hielt mich aufrecht und fern von allem, was mich in Frage stellte. Dann, auf einmal, trat, ganz langsam, eine Wende ein. Ich spürte, daß irgendetwas mit mir nicht mehr stimmte, konnte diese Ahnung jedoch nicht einordnen. Als ich dann in der Schule die ersten zerknüllten Zettelchen von der Jungenbankreihe in die der Mädchen – und umgekehrt – fliegen sah, schöpfte ich einen gewissen Verdacht.

Die Menschen schienen sich, so unbegreiflich sie bisher schon waren, in etwas noch viel Unbegreiflicheres zu verändern. Sie redeten auf einmal vom Küssen und von gewissen Körperflüssigkeiten des jeweils anderen, die man/frau gerne schmecken oder zumindest damit irgendwie in Berührung kommen wolle.

Mein Ekel vor dieser fremden Spezies steigerte sich ins Unermessliche! Ich verstand gar nichts mehr und weil ich nichts verstand, wurde ich auch sofort noch mehr ausgegrenzt als ich ohnehin schon war. Ich dagegen hielt meine Artgenossen- und Genossinnen samt und sonders für Schweine, wobei ich geflissentlich übersah, daß ich solche Wesen aß …

Jawohl, ich war Fleischfresser! Ich nahm fremdes Fleisch nicht nur gerne in den Mund – wie das jetzt alle wollten –, nein, ich zerkaute sogar Leicheneile von Tieren und schluckte sie runter. Um wie viel harmloser es doch ist, eine lebende menschliche Zunge in den Mund zu nehmen und das, ohne sie hinunter zu schlucken, bedachte ich damals nicht. Doch ich versuchte zu lernen!

Von „Liebe“ war die Rede gewesen und auch davon – in meinem Fall seien das Mädchen – jemanden schön zu finden. Ich strengte mich an. Ich setzte mich bewusst (= total falsch herum) auf den Hosenboden und bemühte meine Phantasie, wobei ich beispielweise ein bestimmtes weibliches Geschöpf so lange wie in Trance anstarrte, bis ich es schön fand. Schritt für Schritt arbeitete ich mir seine, vorher nicht bemerkten, Vorzüge heraus. Ebenmäßige Gesichtszüge z. B., große, ausdrucksvolle Augen, schlanke Hände, seidiges Haar usw. Dann nahm ich an, verliebt zu sein. Ich teilte dies den anderen Jungen mit und erntete logischerweise: Gelächter! Was sonst?!

Erstmals suchte ich bei den Geistern regelrecht Zuflucht … Doch die Zeit war gnädig. Sie ließ aus meinen anfänglichen Fehlversuchen bitteren Ernst werden. Irgendwann gefiel mir das andere Geschlecht wirklich und so sehnte ich mich, wie alle anderen ebenfalls, nach nicht direkt zu mir gehörenden Körperteilen.

„Als große Freude würdest du es empfinden“, sagte mir eine Stimme „Dinge zu tun, die eigentlich eklig sind, wenn auch längst nicht so eklig wie Leichenteile von Tieren zu zerkauen." Ich staunte über mich selbst, begann mich aber, ab diesem Zeitpunkt, zu halbieren. Ich bewegte mich aus dem reinen Menschsein heraus in Richtung Mann. Und meine Sehnsucht nach einer anderen Hälfte, nach einer, mit der ich Körperflüssigkeiten tauschen konnte, wurde immer größer. Ich träumte mir eine Seele herbei, mit der ich mich körperlich vereinigen konnte (was für ein Widerspruch) und glaubte an jeden Unsinn, der innerhalb dieses Themenkreises Verbreitung fand. Alles, was nach Frau aussah, hielt ich für „rein“ und ich litt, denn ich wollte nichts mehr als wieder komplett werden.

Es folgte eine sehr lange Epoche unerfreulicher Erfahrungen, schlimmer Ereignisse und komplizierter Verfahrensweisen, an deren, schon nicht mehr als überhaupt möglich geglaubtem, Ende eine Bereicherung stand: die andere Hälfte!

Die nun einsetzenden Lernprozesse gipfelten in dem, von der anderen Hälfte geäußerten weiteren Komplettierungswunsch. Ihrer Meinung nach war man erst zu dritt, zu viert, oder zu fünft komplett. Wieder tat ich mich schwer mit dem Begreifen, weil ich von Denkanfällen heimgesucht wurde. Etwas in mir zog sich zurück und ich empfand den Brainfuck einmal mehr als viel zu absurd und als viel zu gefährlich für mich, denn ich sah ihn außerdem noch als Fremdsteuerung an.

Diese Erkenntnis erwies sich als unteilbar! Denn sie konnte von der Partei derer, die mittlerweile auf 5 Milliarden angewachsen waren, einfach nicht anerkannt werden. Mein Denkmodell von der Liebe, in Liebe zur Verantwortung und der Zurückhaltung aus Ohnmachtsgründen, löste daher einen Dreißigjährigen Sezessionskrieg in mir aus, an dessen Ende mein Sieg über mich selbst und meine absolute Komplettierung stand.

Ich lehnte nicht nur meine Bessere Hälfte als fest zu mir gehörend ab, sondern auch das, was ich bisher als „mich selbst“ bezeichnet hatte. Mein Spiegelbild fand keine Beachtung mehr. Die Welt der Geister trat aus ihren Nebelschleiern, in einer Deutlichkeit hervor, die ich als realer als unser Raum-Zeit-Kontinuum empfand. Was übrig blieb, stand in keinem Zusammenhang mehr zu allem Irdischen. Ich hatte mich endlich gefunden. Alles war gut!

Diesseits und Jenseits verschmolzen miteinander zu einer absolut surrealen Einheit, zu einem weniger als Etwas und doch mehr als Nichts. Die andere Partei war inzwischen auf 7 Milliarden angewachsen! Und mein Lebensanspruch als Rechtfertigung erlosch …

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Kommentare

24. Jan 2019

Die Selbstfindung, sie war erschwert -
Der Leser fand es lesenswert!

LG Axel

24. Jan 2019

"weniger als Etwas … mehr als Nichts" - kein Mythos dieses Selbst und absolut berechtigt bereichernd.

LG Yvonne

25. Jan 2019

Vielen Dank liebe Freunde!

LG Alf