Was ich mit Gertrud erlebte

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Was ich mit Gertrud erlebte

Die weiße Kommode stößt fast an meine Bettcouch. Sie hat fünf Schubfächer, an denen rechts und links zwei braune Kugelknöpfe sitzen. In die mittlere pfeffert Mutter morgens um sechs, bevor sie zur Arbeit marschiert, alles, was uns im Weg ist und die Wohnung chaotisch aussehen ließe. Vater zieht dann und wann die Lade auf, schaut uns eindringlich an und schüttelt verständnislos den Kopf; sein Blick ist ein einziger Vorwurf. Oben auf der Kommode steht ein Radio, an dessen rechte Seite sich Vaters Bücher aus der Werksbibliothek schmiegen. Sie sind sämtlich haram – streng verboten, und wäre ich nicht noch immer im Besitz meiner Mandeln, die im Winter alle naslang entzündet sind und Fieber entfachen, käme ich viel seltener in den Genuss, sie heimlich zu lesen. So aber kränkele ich und muss oft das Bett hüten. Kaum, dass Mutter die Wohnung verlassen hat, krieche ich aus den Federn und ziehe jenen Band hervor, dessen Titel mir seit Tagen keine Ruhe lässt. Ich lese in doppelter Hinsicht „fieberhaft“, bis Mutter gegen Mittag heimkommt und ich erschöpft in den Schlaf falle, worüber sie sich wundert, sofern ihr Zeit dazu bleibt: Der große Kohleherd muss in Gang gebracht werden, damit das Mittagessen gekocht werden kann. Manchmal hoffe ich, das Fieber möge mich niemals verlassen, damit ich alle Bücher durchlesen kann, bevor Vater sie abgibt; aber es sinkt früher oder später, da kann ich mich noch so lange barfuß auf das eiskalte Blech vor dem erloschenen Herd stellen und auf ein Wunder hoffen. - Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen: Eine Mandelentzündung verschafft mir den Genuss, im Bett bleiben zu dürfen; ich wähle aus Vaters illustrer Bücherreihe Boccaccios „Dekameron“, das ich über der Daunendecke mit eiskalten Fingern umklammert halte. In seinem Vorwort stellt Boccaccio hundert teils ernste, teils heiter-frivole Geschichten in Aussicht, zum Besten gegeben von zehn Adligen, die vor der Pest aufs Land geflüchtet sind. Ich kann mein Glück kaum fassen: Das Paradies auf Erden liegt vor mir – hundert Geschichten! Meine Körpertemperatur steigt mit jeder Erzählung; mein Kopf glüht, als liege er seit Stunden in der prallen Sonne; ich kann kaum noch aus den Augen gucken. Abends plagt mich hohes Fieber. Vater und Mutter beschließen, mir die Mandeln entfernen zu lassen. Ich riskiere einen schwachen Protest; mein Gekrächze wird als Zustimmung aufgefasst. ‑ Mit neun bin ich meine Mandeln los; ich erkranke nur noch selten und stelle mich nur mehr vor Mathearbeiten auf das eiskalte Herdblech. Vaters Bücher verschlinge ich nach wie vor, meistens vor dem Einschlafen. Ich mutmaße, dass Vater längst darüber im Bilde ist; vielleicht bringt er deshalb neben Werken von Hesse, Böll und Steinbeck oft auch Abenteuerromane heim. Gleichwohl springe ich wie nach wie vor aus dem Bett, sobald Schritte im Flur zu hören sind und stelle die Bücher wieder in die Reihe zurück. - Eines Tages hole ich Mutter von der Arbeit ab; sie putzt bei reichen Leuten und ist dort beliebter als bei mir. Ihre Chefin schenkt mir „Was Gertrud erlebte“, ein Buch „für die reifere Jugend“, das mich tief beeindruckt. Marie von Felseneck hat es geschrieben – in Sütterlin-Schrift; aber ich habe nach wenigen Sätzen „den Bogen raus“. Ich liebe dieses Buch, lese es immer wieder. Gertrud, die Hauptperson, die später Schriftstellerin wird und statt des polnischen Grafen, der ihr aufdringlich den Hof macht, ihren Onkel Hans heiratet, den sie über alles liebt, verzaubert mich mit Herz und Seele. Ich gehe mit ihr durch dick und dünn, erlebe Höhen und Tiefen, verwandele mich in ein „reifes“ Kind. Später verschenke ich das Buch; weil mir ein schönes Präsent fehlt. Das schmerzt mich umso heftiger, als es verunglimpft statt gewürdigt wird. Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. - Seit kurzem halte ich wieder Ausschau nach „Gertrud“; sie ist hier und dort noch zu haben. Ich habe sie all die Jahre über vermisst und kann kaum erwarten, wieder in Händen zu halten, was wir erlebten.

PS.: Ich habe „Gertrud“ gefunden. Muss leider was durcheinander gebracht haben, pardon. Gibt wohl noch ein (ähnliches) Buch. Jedenfalls heiratet sie nicht ihren „Onkel“ Hans, sondern Dr. Hans Georg, den Bruder von Sidonie von Greifswaldau – was für ein Name!

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